Im letzten Heft publizierten wir eine Zusammenfassung der Studie zu den Radikalisierungstendenzen von Muslimen in der Schweiz, verfasst von Lorenzo Vidino an der ETH Zürich. Vidino kam zum Schluss, dass der Kreis radikaler Islamisten hierzulande sehr klein ist. In den letzten Wochen sind aber wieder vermehrt Berichte aufgetaucht von Muslimen aus der Schweiz, die sich den Rebellen in Syrien angeschlossen hätten. Auch wenn genaue Zahlen schwierig zu ermitteln sind und sich die Behörden verständlicherweise bedeckt geben, gehören auch diese Meldungen zu einer Tendenz, die die Sicherheitsorgane der westeuropäischen Staaten zunehmend beunruhigt.

 

Markante Zunahme der Dschihad-Touristen im letzten Jahr

Bis zu 11’000 sogenannte ‚foreign fighters‘ aus insgesamt 74 Staaten hätten seit dem Beginn des Aufstandes gegen Assad in Syrien auf der Seite der Rebellen gekämpft, seien getötet oder gefangen genommen worden. Mit dieser Zahl schreckte Ende vergangenen Dezembers eine Untersuchung des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) die Öffentlichkeit auf. Aaron Zelin und seine Mitautoren hatten seit 2011 rund 1’500 öffentlich zugängliche Quellen wie Zeitungartikel, Berichte von Behörden, aber auch Einträge aus einschlägig bekannten Foren, meist in englischer oder arabischer Sprache ausgewertet. Die genaue Zahl ausländischer Kämpfer zu bestimmen ist fast unmöglich. Zu unterschiedlich sind dazu die Erfassung und Bewertung zum Beispiel durch Sicherheitsorgane. Weiter ist auch die Staatszugehörigkeit und deren Herkunft der Kämpfer nicht immer eindeutig zuzuordnen. Die Autoren haben die einzelnen Kämpfer jeweils dem Staat zugeordnet in dem sie ihren Wohnsitz haben. Darin spiegeln sich das Rekrutierungspotential und die Vernetzung der Rekrutierer, und damit zu einem gewissen Teil der Grad der Radikalisierung wieder. Auf Grund der genannten methodischen Probleme geben Zelin und seine Mitarbeiter die Gesamtzahl in einer Bandbreite von „low“ (nur nachgewiesene Fälle) bis „high“ (sehr wahrscheinlich auf Grund von Quellen) wieder. Diese Spektrum reicht von 3’300 bis zu den genannten 11’000. Davon dürfte etwa jeder fünfte, oder zwischen 400 und 2’000 Kämpfer, aus Westeuropa stammen. Der norwegische Terrorismus- und ExtremismusforscherThomas Heggehammer schätzt die Zahl auf etwa 1’200 womit aber „the number of European fighters in Syria may exceed the total number of Muslim foreign fighters from all Western countries to all conflicts between 1990 and 2010.“

Bemerkenswert und gleichermassen beunruhigend ist die massive Zunahme der Reisen innerhalb der zweiten Jahreshälfte 2013. Zelin hatte bereits im April 2013 eine Einschätzung abgegeben und war damals von 140 bis 600 Kämpfern aus Westeuropa ausgegangen. Diese Zahl hat sich bis im Dezember verdreifacht. An der Bevölkerungszahl gemessen überproportional vertreten sind dabei Reisende aus Belgien, Grossbritannien und den skandinavischen Ländern. Einen Grund für die Zunahme sehen Fachleute in einem gestiegenen Interesse und der dadurch breiteren Berichterstattung. Ursächlich dafür seien sowohl das Bombenattentat von Boston, wie auch die grausame Ermordung des britischen Soldaten Lee Rigby am hellichten Tag mitten in London. Beide Anschläge wurden durch Rückkehrer aus Konfliktgebieten – im Falle von Tsernaevs Dagestan, bei den Mördern von Woolwich Kenya beziehungsweise Somalia – verübt. Diese beiden Fälle, obwohl auf den ersten Blick ohne direkte Verbindung, warfen die Frage auf, wie gross die Gefährdung durch (radikalisierte) Rückkehrer aus Kriegsgebieten ist. Und sie lenkten noch einmal verstärkt den Blick auf Muslime und islamistische Kreise.

Aber nicht nur gewaltsame Zwischenfälle sind für das verstärkte Medieninteresse verantwortlich. In Deutschland hat sich das Problem zum Beispiel durch die Fälle von ‚prominenten‘ Syrien Dschihadisten akzentuiert. Das war zum einen der Fall des Berliner Rappers Denis Cusbert alias Deso Dogg, und zum anderen jener des ehemaligen Fussballtalents Burak Karan, der in der deutschen Jugendnationalmannschaft mitgespielt hatte. Karan kam letztes Jahr in Syrien ums Leben. Im Falle von Denis Cuspert ist der Verbleib nicht restlos geklärt. Wie diese beiden haben sich allein aus Deutschland zwischen 270 und 300 Gleichgesinnte auf den Weg ins Kriegsgebiet gemacht. Wahrscheinlich etwa jeder Dritte von dürfte ein Konvertit sein.

Wahrnehmung als konfessioneller Konflikt

Die Terroranschläge oder Fälle wie eben genannte haben zu r angesprochenen Problematisierung des Dschihad-Tourismus und der damit verbundenen Aufmerksamkeit und Wahrnehmung durch die Medien und die Öffentlichkeit geführt. Dies erklärt gemäss Zelin nur zum Teil die massive Zunahme im letzten Jahr. Ausschlaggebender dürfte die Wahrnehmung des Konflikts als konfessionelle Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten sein, welche den Konflikt zu einem Anziehungspunkt für Ausländer gemacht hat, wie dies zuletzt in den 80-er Jahren der Krieg in Afghanistan war. Dieser innerislamische Konflikt wiederum ist indes vor allem ein Machtkampf zwischen Saudi Arabien und dem Iran. Katalytisch wirkte letztes Jahr besonders die Einmischung der libanesischen Hisbollah auf Seiten Assads. Das Eingreifen verschob die militärischen Gewichte zumindest lokal und verhalf dem Assad Regime zu einem wichtigen Sieg in der Schlacht um Qusayr. Als Reaktion darauf begannen sunnitische Theologen an die ihre Glaubensgenossen zu appelieren, Assad und seinen schiitischen Helfern entgegenzutreten und zu vernichten. Der einflussreichste unter ihnen ist der Ägypter Yusuf al-Qaradawi. Andere Prediger folgten seinem Beispiel und Experten gehen davon aus, dass viele der Ausländer durch ihn motiviert wurden und werden. Sie befürchten weiter, dass sich die Konfessionalisierung noch verschärfen und damit auch der Zustrom ausländischer Kämpfer nochmals zunehmen wird.

Dass sich so viele Muslime aus Westeuropa dem Aufstand gegen Assad angeschlossen haben, dürfte zudem der relativen geographischen Nähe und dem Umstand, dass die Einreise nach Syrien nach wie vor verhältnismässig einfach ist, geschuldet sein (im Vergleich zum Beispiel zu Pakistan oder Afghanistan). Vor allem über die türkische Grenze gelangen Kämpfer nach Syrien. Dies weil das Grenzgebiet auf der syrischen Seite unter Kontrolle von Aufständischen steht. Ankara zeigt sich ausserdem nicht besonders repressiv, wenn es um die Unterbindung des Waren- und Personenverkehrs nach Syrien mit dem Waffen und eben auch eine grosse Zahl ausländischer Kämpfer ins Land gespült werden. Dies ist nicht verwunderlich, gehört die Türkei doch zu den wichtigsten Unterstützern des Aufstandes und sähe Assad lieber heute als morgen gestürzt. Weitere Reiserouten führen über Ägypten und Jordanien, sowie via Zypern und den Libanon nach Syrien.

Und die Schweiz?

„Switzerland is not an Island“, schrieb Vidino in der Eingangs genannten Studie. Trotz oder vielleicht auch wegen der relativ sicheren Verhältnisse in diesem Land lassen sich trotzdem junge Männer für den Kampf im Ausland rekrutieren. Islamistische Netzwerke die Dschihadisten anwerben sind auch in und von der Schweiz aus aktiv. Der NDB geht zur Zeit von rund zehn Personen aus die sich nach Syrien begeben haben. Wer allerdings davon ein radikalisierter Islamist, wer ein Abenteurer oder wer vielleicht nur caritativ unterwegs ist, ist auch für den Nachrichtendienst des Bundes entsprechend schwierig zu beantworten.

Interessant bleibt in diesem Zusammenhang natürlich vor allem die Frage welche Gefahr von Leuten ausgeht, die nach einem Einsatz in Syrien wieder in ihr Heimatland zurückkehren. Auch hier gehen die Meinungen auseinander. Natürlich stellen, Personen die aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen haben ein Risiko dar. Sie könnten zum Beispiel auch seelische Verletzungen davongetragen haben, die sie, wie bei Soldaten beobachtet in Konfliktsituationen „explodieren lassen könnten.“ Sicherheitsbehörden sehen die Gefahren vor allem darin, dass Leute radikalisiert in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten, um dort terroristische Anschläge zu verüben. Yassin Musharbash von der deutschen Die Zeit wendet dagegen ein, dass keine der aktiven Gruppen in Syrien bislang offen zu Anschlägen in Westeuropa aufgerufen hat. Das mag im Moment stimmen. Es dürfte aber vor allem daran liegen, dass die Rekrutierungsnetzwerke und Drahtzieher natürlich möglichst ungestört arbeiten möchten. Mit Terrordrohungen würde man nur die Sicherheitsbehörden auf sich aufmerksam machen und die eigene Arbeit behindern. Auch wenn bislang in Westeuropa keine Vorfälle dieser Art vorgekommen sind, müssen Rückkehrer, mit Blick auf die vorgenannten beiden Terroranschläge (Boston und Woolwich), genauestens im Auge behalten werden.

Lukas Hegi
VSN Vorstand