Dr. Adrian Hänni
In seinem Buch “Terrorisme: mensonges politiques et stratégies fatales de l’Occident” übt Jacques Baud radikale Kritik am “Krieg gegen den Terrorismus”, wie er vom Westen, und insbesondere von den USA, Grossbritannien und Frankreich, geführt wird. Mit den Worten des Autors: „Die westliche Zurückhaltung bei dem Versuch, die asymmetrischen Mechanismen des Dschihad zu verstehen, führte zum Einsatz von ‚harten’ Strategien gegenüber dem Terrorismus. Diese Bestimmtheit – um nicht zu sagen, Kompromisslosigkeit – gegenüber den Islamisten wird im Westen als effektive und abschreckende Strategie verstanden. Die Erfahrung hingegen zeigt, dass dieses Vorgehen in sich selbst die Keime einer Beförderung des Dschihads trägt.“[1] (S. 258)
Oberst im Generalstab Jacques Baud blickt auf eine lange Karriere als Analyst im Strategischen Nachrichtendienst (SND) zurück. Seine Expertise stellte er auch in verschiedenen Konfliktgebieten in den Dienst der Vereinten Nationen. Beispielsweise war der Westschweizer ab 2005 Chef des Nachrichtenwesens bei der Mission der Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) und als solcher direkt dem Sondergesandten des UNO-Generalsekretärs unterstellt.
Laut seiner Hauptthese handelt es sich beim dschihadistischen Terrorismus um eine Art „Resistance“, einen Widerstand gegen die westlichen Militäraktionen in der muslimischen Welt. Dieser Zusammenhang zwischen Aussenpolitik westlicher Staaten und dschihadistischem Terrorismus werde aber im Westen nicht verstanden, beziehungsweise von den dortigen Regierungen bewusst ausgeblendet. Das Resultat dieser Unfähigkeit, die Ursachen des Terrorismus zu verstehen, hätten zu kontraproduktiven Antiterrormassnahmen geführt, welche eine sich ständig weiterdrehende Gewaltspirale antrieben. Baud will damit keinesfalls den Einsatz terroristischer Gewalt durch die Dschihadisten legitimieren – im Gegenteil, er verurteilt diesen scharf – möchte aber aufzeigen, wie sich durch eine präventive Strategie die Grosszahl der Attentate vermeiden liessen.
Terrorisme lässt sich in fünf inhaltliche Blöcke gliedern.[2] In einem ersten Teil (S. 15-80) werden mit historischer Tiefe einige Akteure vorgestellt, denen der Autor eine wichtige Funktion bei der Entstehung beziehungsweise bei der Bekämpfung des dschihadistischen Terrorismus zuschreibt. Im zweiten Teil (S. 81-256) liefert der Autor einen historischen Abriss der letzten ungefähr 25 Jahre, in dem es ihm im Wesentlichen darum geht, „die begangenen Fehler zu verstehen“ und „die Wendepunkte zu identifizieren“ (S. 14), die uns in die heutige Gewaltspirale katapultiert haben.
Im dritten Teil des Buches (S. 257-305) wird der dschihadistische Terrorismus von heute einer strategischen Analyse unterzogen. Baud argumentiert hier sehr überzeugend, dass die Anschläge im Westen nicht das Ersetzen der abendländischen durch eine islamische Kultur zum Ziel haben, wie das von Politkern und Experten häufig behauptet wird. Im Visier der Dschihadisten seien demgemäss nicht das demokratische System oder gar die Existenz der säkularen westlichen Nationalstaaten: „Seitens der terroristischen Aktion lassen sich weder irgendwelche Mechanismen zur Massenmobilisierung feststellen noch die Planung eines weitergehenden Gewalteinsatzes, der eine tief greifende Destabilisierung des Staates auslösen könnte. Der dschihadistische Terrorismus ist nicht für die Revolution konfiguriert.“ (S. 264) Seine Ziele seien vielmehr ein Disengagement des Westens in der islamischen Welt, nicht nur militärisch, sondern auch politisch, religiös oder humanitär. Die Verbreitung des Islams in den westlichen Gesellschaften würde nicht mittels Terrorismus, sondern durch Emigration und finanziellen Investitionen Saudi-Arabiens und anderer Golfmonarchien vorangetrieben. Anschläge seien für diese langfristigen Prozesse kontraproduktiv, da sie in den westlichen Gesellschaften lediglich zu einer Restriktion der muslimischen Einwanderung führten.
Im vierten Teil des Buches (S. 307-377) evaluiert Baud die Massnahmen, welche die USA seit 9/11 und Frankreich seit den Anschlägen von 2015 zur Bekämpfung des Terrorismus ergriffen haben. Dabei zeigt er, in den meisten Fällen sehr überzeugend, dass die einzelnen Praktiken ineffizient, ineffektiv und oft sogar kontraproduktiv waren. Bezüglich der Analysearbeit stellt der Insider Baud mit Bedauern fest, dass die Nachrichtendienste in Europa und den USA die Produktion strategischer Analysen („renseignement stratégique“) – das heisst Einschätzungen der Doktrinen, Ziele, Kulturen, Kontexte, Kapazitäten und Schwachstellen des Gegners – beinahe vollständig eingestellt hätten und sich fast ausschliesslich auf das Sammeln taktischer Informationen beschränkten. Statt der politischen Führung die notwendige Grundlage für ihre strategischen Entscheidungen zu liefern, würden sich die Nachrichtendienste heute weitegehend „selber aufklären“ („se renseigner“) für die von ihnen selbst durchgeführte, weitgehend militarisierte Terrorabwehr.
Im fünften Teil des Buches werden abschliessend einige Grundsatzüberlegungen für ein effektives Vorgehen gegen den dschihadistischen Terrorismus formuliert (S. 377-420). Dazu schlägt Baud eine analytische Trennung von „contre-terrorisme“ und „anti-terrorisme“ vor. „Contre-terrorisme“ umfasst die strategische Dimension der Terrorbekämpfung, die nach Ansicht des Autors heute so gut wie inexistent ist. Diese Dimension richtet ihr Augenmerk auf die „prise de décision terroriste“, die Entscheidung politischer Akteure terroristische Gewalt auszuüben, und versucht sie mittels präventiver Massnahmen zu beeinflussen. Diese, nur ansatzweise skizzierte, Präventionsstrategie umfasst für Baud „alle gesellschaftlichen Aspekte im Innern“ (S. 379), darunter insbesondere die Prävention von Radikalisierung, ein Ende der westlichen Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten (zumindest in ihrer heutigen Form), weniger Allianzen mit antidemokratischen Regimes, sowie ein Überdenken der Art und Weise, wie politische und zivilgesellschaftliche Akteure Globalisierungsprozesse in der muslimischen Welt fördern und sie ihr aufzwängen. Der Westen würde dabei häufig neue Ungleichgewichte in den dortigen Gesellschaften schaffen, die zu Spannungen führten und einen Schutzreflex auslösten gegen das, was als „Kulturimperialismus“ wahrgenommen werde.
Im Gegensatz zu dieser strategischen Dimension beschäftigt sich „anti-terrorism“ mit der taktischen Dimension der Terrorabwehr. Wenn gewisse Akteure sich trotz den präventiven Massnahmen zur Durchführung von Anschlägen entschliessen, müssen diese durch präemptive polizeiliche und nachrichtendienstliche Massnahmen verhindert werden. Im Gegensatz zu heute, wo sie übermässig und kontraproduktive eingesetzt würden, dürften diese taktisch-präemptiven Praktiken aber nicht den Erfolg der präventiven Massnahmen gefährden, sondern sollten sich in die Strategie der Terrorismusbekämpfung einfügen. Bauds analytische Überlegungen zu „contre-terrorisme“ und „anti-terrorism“ könnten Politikern, Nachrichtendiensten und Sicherheitsexperten durchaus als Leitfaden dienen, um eine ausgewogenere und erfolgreichere Strategie zu formulieren.
Leider hat das Buch aber auch gravierende Schwächen. So enthält es sehr, sehr viele faktische Ungenauigkeiten und Fehler. Beispielsweise berichtet der Autor, Stalin habe der jüdischen Gemeinde von den 1940er bis in die 1960er Jahre ein gewisses Vertrauen entgegengebracht (S. 31). Abgesehen davon, dass der sowjetische Diktator bekanntlich schon 1953 das Zeitliche gesegnet hat, erwähnt Baud selbst nur zwei Seiten später die antijüdischen Pogrome sowie die Kampagnen gegen die Juden in der sowjetischen Administration und den Sicherheitsdiensten. Weiter vermischt der Autor die Iran-Contra-Affäre von 1985/86 mit der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im Iran von 1979-1981 (S.63); der Anschlag auf die PanAm 103, die am 21. Dezember 1988 über Lockerbie abstürzte, wird ins Jahr 1989 gelegt (S. 158), das Attentat auf den Boston Marathon vom April 2013 dagegen ins Jahr 2012 zurückdatiert (S. 324) usw.
Als Quelle für die Aussage, die Taliban hätten nach 9/11 die USA aufgefordert, einen konstruktiven Vorschlag zur Lösung der Krise zu unterbreiten, verweist der Autor auf einen geheimen Bericht der US-Botschaft in Islamabad von 1998(!). Dieses Beispiel ist leider beispielhaft für den bisweilen etwas schludrigen Umgang mit den Quellen. Wiederholt werden selbst kontroverse Darstellungen gar nicht oder völlig ungenügend belegt – etwa, dass es sich beim Anschlag auf die in den Khobar Towers untergebrachten US-Truppen in Saudi-Arabien im Juni 1996 um eine False-Flag-Operation von Mitgliedern des saudischen Regimes handelte (S. 85), oder dass die USA, Israel und Frankreich die Al-Nusra-Front in Syrien unterstützt hätten (S. 208). Dieses Vorgehen steht in seltsamem Widerspruch zur Forderung des Autors nach kritischer Reflexion der Medienberichterstattung, weil diese für politische Manipulationen instrumentalisiert werde.
Während diese Unzulänglichkeiten hauptsächlich auf „Nebenkriegsschauplätzen“ angesiedelt sind, entsprechen auch einige zentrale Argumente nicht dem aktuellen Forschungsstand. Baud hält etwa fest, dass der Westen bei Beginn der Luftangriffe auf den Islamischen Staat (IS) im August/September 2014 nicht direkt von diesem bedroht gewesen sei und es sich folglich bei seinem militärischen Engagement in Irak und Syrien nicht um eine Schutzmassnahme gehandelt habe. Bei den folgenden Anschlägen des IS in Europa wie insbesondere denen in Paris im Januar und November 2015 handle es sich deshalb um eine Reaktion, um den Westen zu einer Einstellung der Luftschläge zu bewegen („opération des dissuasion“; S. 244-246, 255).
Unterdessen ist aber klar, dass der IS spätestens seit Ende 2013, und damit fast ein Jahr vor Beginn der amerikanischen Bombardierungen, Kämpfer zur Durchführung von Attentaten nach Europa gesandt hat. Im Sommer 2014 waren diese terroristischen Umtriebe von den westlichen Nachrichtendiensten eindeutig erkannt worden. Beispielsweise stand Mehdi Nemmouche, der am 24. Mai 2014 im Jüdischen Museum in Brüssel das Feuer eröffnet und vier Menschen getötet hat, in direktem Kontakt mit Abdelhamid Abaaoud, dem Europaverantwortlichen des IS-Dienstes für externe Operationen und später Kommandant der Anschläge in Paris vom November 2015.[3] Baud dagegen nennt den Anschlag auf das Jüdische Museum als Beispiel für „individuellen Dschihad“, der völlig ohne Verbindungen zu den IS-Strukturen in Syrien vom Attentäter selbst geplant, finanziert und durchgeführt worden sei (S. 299-300). Die Beschreibung von Beginn, Struktur und Zielen des „IS-Terrorismus“ in Europa ist exemplarisch für Bauds Tendenz, zur Stützung seiner Argumentation wichtige Nuancen zu planieren und die Komplexität auf unangemessene Weise zu reduzieren.
Trotz diesen Mängeln verdient Jacques Bauds flüssig geschriebenes Buch mit seiner gut begründeten und durch umfangreiches Quellenmaterial getragenen Hauptthese die Aufmerksamkeit von Sicherheitspolitikern, Nachrichtendienstlern und all denjenigen, die zu den Themen Terrorismus, Sicherheit oder Frieden forschen. Für Studenten auf Bachelor-Stufe und jene, die sich erst ins Thema Terrorismus einlesen möchten, ist Terrorisme wegen der vielen inhaltlichen Fehler und gelegentlicher Probleme bei der Quellenkritik hingegen eher nicht geeignet. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass bald eine englische oder deutsche Ausgabe erscheint, in welcher die verschiedenen Mängel behoben sind.
Jacques Baud, “Terrorisme: mensonges politiques et stratégies fatales de l’Occident”, Monaco: Éditions du Rocher, 2016, 424 Seiten, 17.52 Euro.
Dr. Adrian Hänni ist Postdoc Fellow an der Universität Leiden (NL) und Dozent für politische Geschichte an der Fernuniversität Freiburg. Er lebt in Washington D.C. und Zürich.
[1] Alle Übersetzungen aus dem Französischen durch den Rezensenten.
[2] Dabei handelt es sich um eine Strukturierung des Inhalts durch den Rezensenten, die nicht strikt der Gliederung des Autors folgt
[3] Rukmini Callimachi, How ISIS Built the Machinery of Terror Under Europe’s Gaze, New York Times, 29. März 2016, http://www.nytimes.com/2016/03/29/world/europe/isis-attacks-paris-brussels.html besucht 31.10.2016; Rukmini Callimachi, How a Secretive Branch of ISIS Built a Global Network of Killers, New York Times, 3. August 2016, http://www.nytimes.com/2016/08/04/world/middleeast/isis-german-recruit-interview.html, besucht 31.10.2016.