Die Nachrichtendienste und ihre geheimen Klubs: Ein Einblick in die unbekannte Seite der Antiterrrorkooperation in Europa

Dr. Adrian Hänni

Dschihadistisch motivierte oder legitimierte Gewalttaten und die Unterstützung zahlreicher Kämpfer aus Europa für den Islamischen Staat (IS) haben in den letzten Jahren immer wieder lautstarke Forderungen nach einer verbesserten Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsdienste bei der Terrorismusbekämpfung hervorgerufen. Eine wachsende Zahl informeller Geheimclubs, die beim multilateralen Informationsaustausch und der operativen Kooperation eine bedeutende Funktion einnehmen, sind aber kaum Gegenstand von politischen Debatten, medialer Berichterstattung oder Expertendiskussionen. Der folgende Artikel zeichnet einen Grundriss.

Im Mai 2018 trafen sich die Direktoren der europäischen Inlandsnachrichtendienste in Berlin zu einem seltenen öffentlichen Stelldichein. An dem vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) organisierten Symposium erklärte der Generaldirektor des britischen MI5, Andrew Parker, dass die Antiterrorkooperation zwischen europäischen Nachrichtendiensten heute wichtiger sei als je zuvor. In der ersten öffentlichen Rede eines MI5-Chefs im Ausland betonte Parker: «For many years we and partner services like the BfV have worked to develop and invest in strong intelligence and security partnerships across Europe: bilaterally, multilaterally and with EU institutions. In today’s uncertain world, we all need that shared strength more than ever.»[1]

Bei diesem Versuch, die europäischen Partner angesichts des bevorstehenden Brexits zu beruhigen, verwies der MI5-Direktor auf die etwas byzantinische Struktur, innerhalb derer die Terrorabwehr in Europa, und über Europa hinaus, koordiniert wird. Diese Struktur wurde zunächst durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA (9/11) sowie die Anschläge in Madrid (2004) und London (2005) geprägt und in den letzten Jahren im Zeichen der vom IS organisierten oder inspirierten terroristischen Gewalt in Europa modifiziert und weiter ausgedehnt. Sie besteht sowohl aus bilateralen Arrangements, EU-Institutionen, verschiedenen internationalen Organisationen als auch aus einer Reihe informeller multilateraler Clubs.

„So wenig tun sie“: Der ehemalige CIA-Direktor Michael Hayden kritisierte die mangelnde Zusammenarbeit der Europäer be der Terrorbekämpfung angesichts der Bedrohung. Quelle: WBUR News

Internationale Organisationen und informelle Institutionen

Eine Schlüsselinstitution innerhalb des Rahmens der EU ist das Intelligence Centre (INTCEN), das als EU Situation Centre (SITCEN) bekannt war. Dieses in Brüssel angesiedelte Organ beschafft keine eigenen nachrichtendienstlichen Informationen. Es ist vielmehr auf die Informationen angewiesen, die von den Diensten der Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Der Europäische Rat wiederum unterhält das Büro des Counter-Terrorism Coordinator (CTC), das die Arbeit des Rats in Sachen Terrorismusbekämpfung koordinieren und die diesbezügliche Kommunikation zwischen der EU und Drittländern verbessern soll. Anfang 2016 etablierte EUROPOL, die Strafverfolgungsbehörde der EU, das European Counter-Terrorism Centre (ECTC), das als Plattform für Informationsaustausch und operationelle Koordination fungiert.[2]
Ausserhalb der EU-Institutionen findet multilaterale Kooperation in verschiedenen internationalen Organisationen und informellen Netzwerken statt, welche die Terrorismusbekämpfung nicht als das erstrangige oder gar alleinige Aufgabengebiet verstehen. Dazu zählen die UNO, die NATO und die G7.
Mindestens so wichtig, und in einigen Bereichen noch wichtiger, sind allerdings eine Reihe informeller multilateraler Clubs der Nachrichten- und Sicherheitsdienste, für welche Antiterrorkooperation und Informationsaustausch die vorrangigen Raisons d’Être darstellen. Zu diesen Clubs, die fast ausschliesslich im Geheimen operieren und kaum einmal in der Medienberichterstattung auftauchen, zählen die Counter Terrorist Group (CTG) des Club de Berne, die Pariser Gruppe, die SIGINT Seniors, die Police Working Group on Terrorism (PWGOT) und die G 13+. Angesichts der durchaus bemerkenswerten Tatsache, dass diese Geheimdienstclubs in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind und dort, meines Wissens, bislang nicht in ihrer Gesamtheit diskutiert und zueinander in Beziehung gesetzt wurden, sollen sie im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Die CTG wurde als Folge von 9/11 gebildet. Es handelt sich um eine Initiative des Club de Berne, der ältesten multilateralen Institution zur Kooperation der Terrorabwehr, die bereits im Jahr 1969 als jährliches Treffen der Direktoren westeuropäischer Inlandsnachrichtendienste gegründet wurde. Zusammengesetzt aus Vertretern der Nachrichtendienste und Polizeikräfte aus EU-Staaten, den USA, Norwegenund der Schweiz beschäftigt sich die CTG mit der Analyse gemeinsamer Bedrohungen, insbesondere des islamistischen Terrorismus, einer Verbesserung des Informationsaustauschs und operationeller Zusammenarbeit. Diese Gruppe, wohl eine der bedeutendsten in der täglichen Antiterrorkooperation, suchte in den letzten Jahren eine engere Anbindung an die Strukturen der EU, insbesondere an EUROPOL. Seit Juli 2016 betreiben der Club de Berne und die CTG ausserdem eine operative Plattform in Den Haag, wo die Inlandsnachrichtendienste der Mitgliedsstaaten – und damit auch der Schweizer Nachrichtendienst des Bundes (NDB) – eine gemeinsame Datenbank und ein Echtzeitinformationssystem unterhalten.[3]
Spezialeinheiten der nationalen Polizeikräfte der EU-Mitgliedsstaaten und Norwegens kooperieren im Rahmen der geheimen Police Working Group on Terrorism (PWGOT). Diese Gruppe wurde bereits 1979 durch die britische Metropolitan Police Special Branch, die Bijzondere Zaken Centrale des niederländischen Centrale Recherche Informatiedienst, die Abteilung Terrorismus des westdeutschen Bundeskriminalamts und die belgische Gendarmerie gegründet. Die Einrichtung dieser Gruppe erfolgte, weil ihre Gründungsmitglieder und insbesondere die Briten in den späten 1970er-Jahren die Auffassung vertraten, dass die Polizeikooperation auf operativer Ebene noch ungenügend war.
Entsprechend zielte die sehr informelle PWGOT, welche zweimal jährlich zu einem Treffen zusammenkommt, darauf ab, den Austausch von Informationen (auf operativer Ebene), von Beamten und von Expertise (durch die Organisation von Seminaren für Spezialisten) zu fördern. Gemäss dem Sicherheitsexperten Peter Chalk lag der hauptsächliche Wert der PWGOT in «ihrer Rolle bei der Förderung von engen Arbeitsbeziehungen und persönlichem Goodwill zwischen den verschiedenen nationalen Behörden, die in den Kampf gegen den Terrorismus eingebunden sind».[4] Bis 2018 waren schliesslich alle EU-Mitgliedsstaaten sowie die skandinavischen Länder der PWGOT beigetreten.[5]

Die neuesten Clubs

Die Pariser Gruppe wiederum formierte sich Anfang 2016, als Reaktion auf die Anschläge in Paris im Januar und November 2015 und allgemein auf die zunehmende terroristische Gewalt auf europäischem Territorium im Zuge der wachsenden Handlungsmacht des IS. An den Treffen der Pariser Gruppe kommen die Nachrichtendienstkoordinatoren von 15 europäischen Ländern zusammen (darunter Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Irland, die Niederlande, Polen, Spanien, Grossbritannien, Norwegen und Schweden). Die Arbeit dieses Clubs geht entsprechend über eine Zusammenarbeit der Inlandsnachrichtendienste hinaus und schliesst mit grosser Wahrscheinlichkeit die Auslandsnachrichtendienste mit ein.[6]

Eine weitere Institution, die neulich angesichts der Herausforderungen durch den IS und den Krieg in Syrien gebildet wurde, ist die Gruppe 13+ (G 13+). Bei dieser von Belgien angeführten Initiative handelt es sich allerdings nicht um einen eigentlichen Geheimdienstclub. Vielmehr kommen hier die Innenminister mehrerer europäischer Staaten zusammen. Zu den Mitgliedern der G 13+, die ursprünglich EU9-Gruppe genannt wurde, zählen neben Belgien die EU-Mitgliedstaaten Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Österreich, Schweden, die Niederlande, Spanien, Italien und Polen – aber auch die Schweiz und Norwegen. Bereits seit Juni 2013 werden an informellen Treffen der Informationsaustausch und andere gemeinsame Massnahmen gegen die sogenannten «foreign fighters» diskutiert, unterdessen vor allem bezüglich der Rückkehr von Kämpfern, die in Syrien und im Irak für den IS gekämpft haben. Offensichtlich konnte die informelle G 13+ von aussen Impulse geben für Aktivitäten, die später auf EU-Ebene verfolgt wurden.[7] Dem Eidgenössischen Department des Innern (EDI) bietet sich in diesem Forum damit eine Möglichkeit, direkt die europäische Politik zu konkreten Aspekten der Terrorismusbekämpfung mitzugestalten.
Der geheimste der multilateralen Clubs sind die SIGINT Seniors, die Antiterrorkoalition der Nachrichtendienste, die mit der Beschaffung von Signals Intelligence (SIGINT) betraut sind. Diese von der NSA angeführte Institution besteht aus zwei Abteilungen, SIGINT Seniors Europe und SIGINT Seniors Pacific. SIGINT Seniors Europe wurde bereits 1982 gebildet, mit dem hauptsächlichen Ziel, Informationen über das sowjetische Militär auszutauschen. Nach 9/11 wechselte der Fokus zur Terrorismusbekämpfung und die Gruppe wurde ausgebaut, von neun auf neu 14 Mitglieder: die «Five Eyes» USA, Kanada, Grossbritannien, Australien und Neuseeland sowie Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Norwegen, Spanien und Schweden.

SIGINT Seniors Europe hält eine jährliche Konferenz ab, wobei Intelligence über verdächtige Terroristen sowie die Zusammenarbeit bei der Entwicklung von neuen Überwachungstools und -techniken im Mittelpunkt stehen. Seit 2006 wird auch versucht, das Potenzial des Internets zur Terrorabwehr zu nutzen. Der Club betreibt sein eigenes Kommunikationssystem SIGDASYS zum Austausch von SIGINT.
SIGINT Seniors Pacific wiederum wurde 2005 von der NSA ins Leben gerufen. Das Netzwerk, welches neben den Five Eyes die SIGINT-Nachrichtendienste von Südkorea, Singapur, Thailand, Frankreich und Indien umfasst (Stand 2013), richtet seinen geografischen Fokus auf die Region Asien-Pazifik und betreibt ein abhörsicheres Kommunikationssystem namens CRUSHED ICE.[8]

Conclusio

Spätestens seit einigen Jahren besteht damit eine Architektur aus multilateralen Clubs, die im Zeichen der internationalen Antiterrorkooperation Nachrichtendienste aus Europa, und in geringerem Ausmass auch Nordamerikas, enger zusammenbringen sollen. Während das Fundament der Architektur mit Institutionen wie dem Club de Berne und der PWGOT bereits in den 1970er-Jahren errichtet wurde, hat man dieses Antiterrorgebäude im Wesentlichen in den Jahren seit 9/11 gezimmert. Die Gliederung entspricht weitgehend der Gliederung der nationalen «intelligence communities»: Die CTG bringt die Inlandsnachrichtendienste zusammen, die Pariser Gruppe darüber hinaus die Nachrichtendienstkoordinatoren und die Auslandsnachrichtendienste, die SIGINT Seniors die Dienste, welche elektronische Kommunikation abfangen und die PWGOT Spezialeinheiten der nationalen Polizeikräfte. Dazu kommt die G 13+, welche die Ebene der (Innen-)Minister einschliesst und sich mit den Foreign Fighters einem spezifischen Aspekt der Terrorismusproblematik widmet. Zumindest die CTG und die SIGINT Seniors betreiben ausserdem eigene, geheime Kommunikationssysteme, durch die regelmässig multilateral nachrichtendienstliche Informationen ausgetauscht werden.
Angesichts dschihadistischer Anschläge wurde in den letzten Jahren immer wieder die Notwendigkeit einer verbesserten Antiterrorkooperation in Europa und generell im transatlantischen Raum thematisiert. Die Schaffung eines integrierten europäischen Nachrichtendienstes wird zwar gelegentlich gefordert, eine Realisierung bleibt aber bis auf weite Sicht politisch chancenlos. Die Aufmerksamkeit von Politikern, Experten und Medien richtet sich deshalb vor allem auf EU-Institutionen wie das INTCEN und EUROPOL sowie die NATO. Tatsächlich finden multilateraler Informationsaustausch und operative Koordination in der Terrorismusbekämpfung in bedeutenderem Ausmass aber durch die geheimen Clubs der Nachrichtendienste statt. Einige dieser Clubs suchen ausserdem seit Kurzem eine Anbindung an beziehungsweise die Einbindung von EU-Institutionen. Ungestört von kritischen Augen in Parlament und Bevölkerung ist die Schweiz fest in diese internationale Kooperation integriert.

(Dr. Adrian Hänni ist Dozent für politische Geschichte an der FernUni Schweiz. Er lebt in Washington D.C. und Zürich. Zurzeit absolviert er einen Forschungsaufenthalt an der Universität Newcastle, New South Wales, Australien.)

[1] Rede von MI5-Generaldirektor Andrew Parker am BfV-Symposium, Berlin, 14. Mai 2018, (abgerufen am 15. August 2018).
[2] Robert Lackner, Intelligence: The Missing Dimension in EU Security Policies?, Global View 1 (2016), 6–8.
[3] Zur CTG siehe Richard J. Aldrich, Transatlantic Intelligence and Security Cooperation, International Affairs 80/3 (2004), 740f; Mathieu Deflem, Europol and the Policing of International Terrorism: Counter-Terrorism in a Global Perspective, Justice Quarterly 23/3 (2006), 341; «Implementation of the Counter-terrorism Agenda Set by the European Council», Mitteilung vom EU Counter-terrorism Coordinator an die Delegationen, Europäischer Rat, Brüssel, 4. November 2016, (abgerufen am 15. August 2018). Zum Club de Berne siehe Aviva Guttmann, The Origins of International Counterterrorism: Switzerland at the Forefront of Crisis Negotiations, Multilateral Diplomacy, and Intelligence Cooperation (1969–1977) (Leiden: Brill, 2018), 183–229.
[4] Peter Chalk, West European Terrorism and Counter-terrorism: The Evolving Dynamic (Basingstoke: Macmillan, 1996), 124. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.
[5] Zur PWGOT siehe John Benyon, Policing the European Union: The Changing Basis of Cooperation on Law Enforcement, International Affairs 70/3 (1994), 511f; Eva Oberloskamp, Codename TREVI: Terrorismusbekämpfung und die Anfänge einer europäischen Innenpolitik in den 1970er-Jahren (Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2017), 225f; Didier Bigo, Polices en réseaux: l’expérience européenne (Paris: Presses de la Fondation nationale des sciences politiques, 1996), 90.
[6] Zur Pariser Gruppe siehe «Implementation of the Counter-terrorism Agenda Set by the European Council», 4. November 2016, 24.
[7] Zur G 13+ siehe «Implementation of the Counter-terrorism Agenda Set by the European Council», 4. November 2016, 38; «Gruppe der EU9, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke», Drucksache 18/4017, Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, 17. February 2015, (abgerufen 15. August 2018).
[8] Die Ausführungen zu den SIGINT Seniors basieren auf NSA-Dokumenten, die von Edward Snowden bereitgestellt und von The Intercept publiziert wurden. Siehe Ryan Gallagher, The Powerful Global Spy Alliance You Never Knew Existed, The Intercept, 1. March 2018, (abgerufen am 15. August 2018).

 

Getagged mit:

Härtetest für den Leopard 2-Panzer

Patrick Truffer

Ende August 2016 startete die Türkei die Operation “Schutzschild Euphrat” mit dem Ziel, südlich der türkischen Grenze eine Sicherheitszone zu schaffen. Zusätzlich zum Schutz vor Kämpfern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), soll damit auch die Ausbreitung der kurdischen People’twere Protection Units (YPG), welche Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) sind, westlich des Euphrats und damit langfristig ein zusammenhängendes, den ganzen nördlichen Teil Syriens umfassendes Kurdengebiet verhindert werden.[1]

 

Zu Beginn der Operation unterstützten die türkischen Streitkräfte die Freie Syrische Armee (FSA) bei ihrem Vorstoss mit Luftschlägen, Bogenfeuer und direktem Feuer aus M60T Sabra Kampfpanzern. Mit dem weiteren Operationsverlauf nahm die Beteiligung der türkischen Streitkräfte zu. Seit Anfang Dezember setzt die Armee in der Region der syrischen Stadt al-Bab ein Bataillon mit 45 Leopard 2-Kampfpanzern ein. Dabei gingen möglicherweise bis zu 10 Stück verloren.[2] Damit wird rund um den Leopard 2 ein Unverwundbarkeitsmythos beerdigt, denn weder beim Einsatz im Kosovo noch in Afghanistan kam es zu Verlusten.[3] Die Frage stellt sich nun, ob der Leopard 2 in die Jahre gekommen ist und seine Schutzmassnahmen nicht mehr ausreichen. Was bedeutet dies für die in der Schweizer Armee im Einsatz stehenden Leopard 2?

 

Die Schlacht um al-Bab

Die Operation „Schutzschild Euphrat“ kann in vier Phasen unterteilt werden. In der ersten Phase ging es um die Einnahme und Befreiung der syrischen Grenzstadt Jarabulus. Dabei zogen sich die IS-Kämpfer weitgehend kampffrei nach al-Bab zurück.[4] In einer zweiten Phase nahmen im September 2016 FSA-Kämpfer zirka 55 km weiter westlich von Jarabulus die syrische Grenzstadt al-Rai ein. Bereits im April und Juni versuchte die FSA al-Rai einzunehmen, scheiterten jedoch am Widerstand der IS-Kämpfer. Ende September startete die dritte Phase: die Einnahme der symbolträchtigen, aber strategisch unbedeutenden syrischen Kleinstadt Dabiq. Auch hier zogen sich die IS-Kämpfer ohne grossen Widerstand nach al-Bab zurück.[5] Mitte Oktober schliesslich startete die vierte Phase: Die Offensive zur Eroberung von al-Bab. Im Unterschied zu den vorhergehenden Phasen nahm, der Widerstand der IS-Kämpfer deutlich zu. Nachdem Vorstösse der FSA aus nördlicher Richtung gegen Ende November abgeblockt wurden, kreisten diese al-Bab zunehmend von Westen her ein, was die Offensive jedoch spürbar abbremste.

 

Die Verluste der türkischen Streitkräfte sind schwierig zu verifizieren. Diese beiden Panzer wurden vermutlich aufgegeben und nachträglich zerstört. Quelle: Below the Turret Ring

Die Verluste der türkischen Streitkräfte sind schwierig zu verifizieren. Diese beiden Panzer wurden vermutlich aufgegeben und nachträglich zerstört. Quelle: Below the Turret Ring

Bis in den Dezember hinein forderte die Operation “Schutzschild Euphrat” je nach Quelle 9-11 türkische Panzer, wobei jedoch keine Leopard-Panzer betroffen waren, das Leben von 18 türkischen Soldaten und von rund 300 FSA-Kämpfern.[6] Die Verluste stammen hauptsächlich von Kämpfen mit kurdischen Rebellen. Im Gegensatz dazu vermieden IS-Kämpfer in der Regel eine direkte Konfrontation mit den türkischen Streitkräften beziehungsweise. den FSA-Kämpfern und zogen sich nach al-Bab zurück. Al-Bab ist eine regionale Hochburg des IS und strategisch wichtig für ihn, um ein weiteres Vorrücken der türkischen Streitkräfte bzw. der FSA nach al-Raqqa zu verhindern. Vermutlich veranlasste der zunehmende Widerstand des IS in al-Bab die türkischen Streitkräfte anfangs Dezember dazu, das 1. Bataillon der 2. Gepanzerten Brigade mit ihren 45 Leopard 2 in al-Bab einzusetzen.[7]

 

Dass nun mit erheblich mehr Widerstand zu rechnen ist, zeigte sich beispielhaft am 21. Dezember 2016 – dem bis jetzt blutigsten Tag für die türkischen Streitkräfte, welche an der Operation “Schutzschild Euphrat” beteiligt sind. An diesem Tag wurden durch drei Selbstmordattentate in al-Bab 16 türkische Soldaten getötet.[8] Aufgrund von Bildaufnahmen ist es wahrscheinlich, dass dabei zwei türkische Leopard 2 von IS-Kämpfern in Besitz genommen werden konnten.[9] Doch das ist bloss die Spitze des Eisberges: Geleakte Dokumente zeigen auf, dass das in al-Bab eingesetzte Bataillon möglicherweise bis Ende Dezember zehn seiner Leopard 2 verloren hat, was einem Kampfkraftverlust von rund 20% entspricht. Als Panzerabwehr- Lenkwaffe werden von kurdischen Widerstandskämpfern primär US- amerikanische TOW-2A, von IS- Kämpfern russische 9K111 Fagot (AT-4 Spigot) oder 9K135 Kornet (AT-14 Spriggan) eingesetzt.[10]

 

Die IS-Propaganda weiss die Verluste der Türken geschickt auszunutzen. Es zeigt aber auch die taktischen Fehler der türkischen Armee auf, die Panzer praktische immer ohne Flankenschutz operieren lassen. Quelle: Twitter

Die IS-Propaganda weiss die Verluste der Türken geschickt auszunutzen. Es zeigt aber auch die taktischen Fehler der türkischen Armee auf, die Panzer praktische immer ohne Flankenschutz operieren lassen. Quelle: Twitter

Der Leopard 2A4 ist als Einzelkämpfer für den Kampf in überbautem Gelände ungeeignet

Der Leopard 2 besitzt zu Unrecht einen Unverwundbarkeitsmythos. Das grundlegende Design des Panzers stammt aus den 1970er-Jahren. Ausgerichtet auf die Bedürfnisse des Kalten Kriegs wurde dieser für eine Panzerschlacht konzipiert, bei welcher der Gegner aus der Bewegung frontal angegriffen wird. Um Gewicht zu sparen und die Mobilität zu erhöhen wurde die Panzerung an Seite und Heck weniger stark ausgelegt als an Wannen- und Turmfront. Die türkischen Streitkräfte haben mit der von ihnen eingesetzten Variante 2A4 genau diese Schwachstellen, welche – basierend auf den Bildern einiger zerstörten türkischen Leopard – ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Verhängnis wurden. Zwar könnte der 2A4 mit zusätzlicher Panzerung oder gar Aktivpanzerung ausgerüstet werden, doch würde dies den 60-Tonnen-Panzer noch schwerer machen. Die Aktivpanzerung wäre ausserdem ein nicht vertretbares Risiko für die um die Panzer eingesetzten Soldaten. Da im überbauten Gelände der Gegner nicht nur frontal, sondern aus Gebäuden heraus theoretisch von allen Seiten und von oben zuschlagen kann, ist der Leopard 2A4 in seiner Grundkonfiguration als Einzelkämpfer in überbautem Gelände nicht geeignet. Die Schwäche in der Panzerung wird erst mit dem Leopard 2A7+ behoben, welcher für den Kampf in überbautem Gelände konzipiert wurde und eine allumfassende Verbundpanzerung aufweisen soll.[11]

 

Zu den genannten Schwächen in der Panzerung kommt hinzu, dass die türkischen Panzerformationen taktisch schlecht trainiert sind. Die Panzer werden viel zu statisch und zu wenig geschützt in einer sogenannten „hull-down position“, bei der der Turm aber nicht die Wanne sichtbar ist, eingesetzt, was sie für Panzerabwehrlenkwaffen zu einem leichten Ziel machen. In einem Fall wurde ein Panzer getroffen, doch die Crew des zweiten Panzers reagierte darauf nicht. Als Mittel der Feuerunterstützung sollte ein Panzer von einem gesicherten Umfeld aus eingesetzt werden. Ist dies nicht möglich, muss er im Verband mit Begleitschutz in den Flanken vorstossen – der Panzer ist kein Einzelkämpfer. Eine solche Einsatzdoktrin konnte bei den türkischen Streitkräften weder beim M60T noch beim Leopard 2 während der Operation “Schutzschild Euphrat” beobachtet werden.[12]

 

Panzerabwehrlenkwaffen mit grosser Reichweite haben im Krieg in Syrien grosse Verbreitung gefunden. Der IS setzt dabei vor allem russische Modelle ein wie die Kornet E. (Abbildung zeigt den Werfer mit Zieloptik und der Lenkwaffe). Quelle: Wikipedia

Panzerabwehrlenkwaffen mit grosser Reichweite haben im Krieg in Syrien grosse Verbreitung gefunden. Der IS setzt dabei vor allem russische Modelle ein wie die Kornet E. (Abbildung zeigt den Werfer mit Zieloptik und der Lenkwaffe) Quelle: Wikipedia

Konsequenzen für die Schweizer Armee

Im aktiven Bestand der Schweizer Armee befinden sich momentan 134 Panzer 87 Leopard 2 WE (Werterhaltung). Abgesehen von einigen die Panzerung nicht betreffenden Modifikationen handelt sich dabei um kampfwertgesteigerte Leopard 2A4. Die Kampfwertsteigerung wurde im Rüstungsprogramm 2006 beantragt und kostete 395 Millionen Schweizer Franken. Sie zielte „auf eine Verbesserung der Führungsfähigkeit der Panzerverbände und -formationen sowie auf den Erhalt einer hohen Systemverfügbarkeit ab. Sämtliche Schutzkomponenten und die autarke Waffen- und Beobachtungsstation [wurden] nicht in die Werterhaltung einbezogen.“[13] Das heisst, dass die Panzer 87 Leopard WE der Schweizer Armee über gleiche Schwachstellen der Panzerung an Seite und Heck verfügen und somit im Alleingang ohne zusätzlichen Anpassungen nicht für den Kampf im überbauten Gelände geeignet sind. Neben Krauss-Maffei Wegmann, Rheinmetall/IBD Deisenroth bietet jedoch auch die RUAG eine aufrüstbare Zusatzpanzerung für den Leopard 2A4 an.[14]

 

Viele Bilder zeigen wie die Leopard 2-Panzer der Türken oft als direkt schiessende Artillerie in einer sogenannten «hull down»-Position eingesetzt werden. Quelle: Twitter

Viele Bilder zeigen wie die Leopard 2-Panzer der Türken oft als direkt schiessende Artillerie in einer sogenannten «hull down»-Position eingesetzt werden. Quelle: Twitter

Fazit

Auch heute ist der Leopard 2 ein tauglicher Panzer, wenn er für den Zweck eingesetzt wird, für den er ursprünglich konzipiert wurde: eine Schlacht Panzer gegen Panzer. Die in der Türkei verwendete Variante des Leopard 2 ist jedoch nicht für den eigenständigen stationären Kampf in überbautem Gelände geeignet. Falsche Doktrin, schlecht ausgebildete Besatzung und die Schwäche in der Panzerung an der Seite und am Heck machen den Leopard 2 zu einem lohnenden Ziel für Panzerabwehrlenkwaffen, über welche sowohl die kurdischen Rebellen wie auch die IS-Kämpfer verfügen. Will die Schweizer Armee den Panzer 87 Leopard 2 WE in überbautem Gelände einsetzen, ist sie gut beraten, die Lehren aus dem Einsatz des Leopard 2 in der Operation “Schutzschild Euphrat” zu ziehen und womöglich die Flotte mit einer besseren Rundum-Panzerung nochmals kampfwertzusteigern.

Patrick Truffer besitzt einen Bachelor in Staatswissenschaften von der ETH Zürich und schliesst derzeit seinen Master in internationalen Beziehungen an der Freien Universität Berlin ab. Dieser Artikel erschien in einer früheren Fassung auch auf offiziere.ch.

[1]          Agence France-Presse, „Turkish Tanks Enter Syria to Open New Front against Islamic State“, The Telegraph, 03.09.2016, http://www.telegraph.co.uk/news/2016/09/03/turkish-tanks-enter-syria-to-open-new-front-against-islamic-stat/, besucht: 29.01.2016.

[2]          Dylan Malyasov, „Two Turkish Leopard-2 Main Battle Tanks Were Destroyed in Syria“, Defence Blog, 14.12.2016, http://defence-blog.com/army/two-turkish-leopard-2-main-battle-tanks-were-destroyed-in-syria.html, besucht: 29.01.2016; „Leopard 2 in Syria“, Below The Turret Ring, 15.12.2016, http://below-the-turret-ring.blogspot.com/2016/12/leopard-2-in-syria.html, besucht: 29.01.2016.

[3]          „Er galt als unzerstörbar: In Syrien wird ein Panzer-Mythos zerstört“, FOCUS Online, 12.01.2017, http://www.focus.de/politik/videos/schwachstelle-entdeckt-verluste-in-syrien-ein-deutscher-panzer-mythos-wird-jetzt-zerstoert_id_6487678.html, besucht: 29.01.2016.

[4]          „Syria: Turkish-Backed Rebels ‚Seize‘ Jarablus from ISIL“, Al Jazeera, 24.08.2016, http://www.aljazeera.com/news/2016/08/syria-turkish-backed-rebels-seize-jarablus-isil-160824162712114.html, besucht: 29.01.2016.

[5]          „Syria Conflict: IS ‚Ousted from Symbolic Town of Dabiq'“, BBC News, 16.10.2016, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-37670998, besucht: 29.01.2016.

[6]          „Turkish Military Intervention in Syria (Footnote 84)“, Wikipedia, 20.12.2016, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Turkish_military_intervention_in_Syria&oldid=755757077#cite_note-82, besucht: 29.01.2016.

[7]          Shoreshger, „TAF Armor Losses in Al-Bab in Recent Clashes“, Reddit – Syrian Civil War, Dezember 2016, https://www.reddit.com/r/syriancivilwar/comments/5jw89a/taf_armor_loses_in_albab_in_recent_clashes/, besucht: 29.01.2016; „Leopard 2 in Syria“, Below the Turret Ring.

[8]          Selcan Hacaoglu and Firat Kozok, „Jihadists Kill 16 Troops in Turkey’s Deadliest Day in Syria“, Bloomberg, 21.12.2016, https://www.bloomberg.com/news/articles/2016-12-21/clashes-kill-14-troops-in-turkey-s-deadliest-day-so-far-in-syria, besucht: 29.01.2016.

[9]          Leith Fadel, „Turkish Army Offensive Takes Disastrous Turn in East Aleppo as Slain Soldiers Litter Battlefield“, AMN – Al-Masdar News, 22.12.2016, https://www.almasdarnews.com/article/turkish-army-offensive-takes-disastrous-turn-east-aleppo-slain-soldiers-litter-battlefield/, besucht: 29.01.2016.

[10]         Jeff Jager, „Turkey’s Operation Euphrates Shield: An Exemplar of Joint Combined Arms Maneuver“, Small Wars Journal, 17.10.2016, http://smallwarsjournal.com/jrnl/art/turkey%E2%80%99s-operation-euphrates-shield-an-exemplar-of-joint-combined-arms-maneuver, besucht: 29.01.2016; „Tank Fiasco Turkey: Posted a New Photo to lost ‚Leopards'“, Latest World News, 25.12.2016, http://en.news-original.ru/tank-fiasco-turkey-posted-a-new-photo-to-lost-leopards.html, besucht: 29.01.2016,.

[11]         „Er galt Als Unzerstörbar“, FOCUS online.

[12]         „Leopard 2 in Syria“, Below the Turret Ring.

[13]         Schweizerischer Bundesrat, Botschaft über die Beschaffung von Armeematerial (Rüstungsprogramm 2006), 24. Mai 2016, S. 39. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/2811.pdf.

[14]         „Leopard Solutions“, RUAG, offline.

Nordkorea – leben mit dem Status Quo

Patrick Truffer

Am 9. September 2016 führte Nordkorea den fünften Atombombentest durch. Dabei handelt es sich um die bis jetzt stärkste Detonation im Rahmen der nordkoreanischen Testreihe (Schätzungen liegen zwischen 10-20 kT).[1] Doch das ist nicht die einzige besorgniserregende Entwicklung: Gleichzeitig zum Nuklearwaffenprogramm, werden auch die Trägersysteme weiterentwickelt. So führte Nordkorea am 22. Juni 2016 einen erfolgreichen Test seiner neuen Mittelstreckenrakete Hwasong-10 durch, welche mit einem nuklearen Sprengkopf bis zu 3’500 km erreichen könnte (ein weiterer Raketen-Test am 25. Oktober 2016 war jedoch nicht erfolgreich).[2] Damit könnte der wichtige U.S. Militärstützpunkt Guam im Einsatzbereich dieser Waffe liegen. Schätzungen gehen davon aus, dass Nordkorea in rund 10 Jahren über eine interkontinentale Trägerrakete verfügen wird.[3]

 

Die vorgebliche Unberechenbarkeit des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un, die Verfügbarkeit von nuklearen Sprengköpfen sowie eines Trägersystems könnten langfristig eine direkte Bedrohung der USA darstellen. Es stellt sich deshalb die Frage, wie die USA mit dieser sich abzeichnenden Bedrohung umgehen und welche Rolle dabei China spielt?

 

Der Weg zu einer Atommacht

Nordkorea gehört zu denjenigen Staaten, die sich schon sehr früh für Nuklearwaffen interessiert haben. Ab 1956 konnten nordkoreanische Wissenschaftler in der Sowjetunion am Joint Institute for Nuclear Research in Dubna in der Nähe von Moskau erste Erfahrungen sammeln. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurden dort insgesamt 120-150 Nordkoreaner ausgebildet. Im September 1959 schliesslich schloss die Sowjetunion mit Nordkorea eine Vereinbarung zur nuklearen Kooperation ab, vermutlich als Reaktion auf eine ähnliche Vereinbarung zwischen den USA und Südkorea im Juli des gleichen Jahres. Ab 1962 unterstützte die Sowjetunion Nordkorea beim Aufbau der kerntechnischen Anlagen in Nyŏngbyŏn und lieferte dazu einen 4 Megawatt (MWe) Leichtwasserreaktor zu Forschungszwecken. 1985 wurde von der Sowjetunion ein weiterer Nuklearreaktor in Aussicht gestellt, wenn Nordkorea den Atomwaffensperrvertrag unterschreibt.[4] Trotz Nordkoreas Einwilligung wurde der Reaktor jedoch nie geliefert. Es scheint, dass die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion aufgrund der politischen Umwälzungen gegen Ende der 1980er-Jahre zu einem Stillstand gekommen war. Dies ist auch der Grund dafür, dass Russland heute keinen Einfluss mehr auf das nordkoreanische Regime geltend machen kann.[5] Dies hat das nordkoreanische Regime an der Weiterentwicklung von Nuklearwaffen jedoch nicht abgehalten. Bereits 1986 ging der erste eigene Atomreaktor (5 MWe) mit dem Ziel der Herstellung von Plutonium in Betrieb. Kurz darauf begannen die Arbeiten an einem 50 MWe bzw. einem 200 MWe Reaktor, welche jedoch beide nicht fertiggestellt wurden. Wären alle drei Reaktoren funktionell, könnte Nordkorea genügend Plutonium für rund 50 Atombomben pro Jahr herstellen.[6]

Das Satellitenbild vom 16. Januar soll zeigen, dass Nordkorea den Betrieb des 5MWe Plutonium-Reaktors wieder in Betrieb genommen hat. Damit ist es in der Lage Plutonium für 5-6 Sprengköpfe im Jahr herzustellen. © CNES 2017 via 38north.org

Das Satellitenbild vom 16. Januar soll zeigen, dass Nordkorea den Betrieb des 5MWe Plutonium-Reaktors wieder in Betrieb genommen hat. Damit ist es in der Lage Plutonium für 5-6 Sprengköpfe im Jahr herzustellen. © CNES 2017 via 38north.org

1994 gingen die USA davon aus, dass Nordkorea in seinem 5 MWe Reaktor genügend Plutonium produziert hatte, um damit 5-6 nukleare Sprengsätze zu bauen. Zu dieser Zeit planten die USA einen Luftschlag mit konventionellen Präzisionsbomben auf den Reaktor um den Ausbau der mit Plutonium angereicherten Brennstäbe zu verhindern.[7] Es kam jedoch anders: Dank den diplomatischen Bemühungen des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter konnte 1994 das Genfer Rahmenabkommen zwischen den USA und Nordkorea abgeschlossen werden. Darin wurde vereinbart, dass Nordkorea die drei auf dem Magnox-Design beruhenden, Plutonium produzierenden Reaktoren im Austausch gegen zwei durch die USA gesponserte 1’000 MWe Leichtwasserreaktoren, welche zur Produktion von waffenfähigem Nuklearmaterial ungeeignet waren, unmittelbar aufgeben würde.[8] Zur Kompensation der dadurch ausfallenden Stromproduktion sollten die USA die Lieferung einer äquivalenten Menge Öl finanzieren, bis die beiden Leichtwasserreaktoren ans Netz gehen würden. Darüber hinaus verpflichtete sich Nordkorea im Atomwaffensperrvertrag zu verbleiben und dessen Auflagen zu erfüllen. Langfristig war eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Nordkorea vorgesehen, welche mit der Etablierung diplomatischer Beziehungen und dem Abbau der Sanktionen einhergehen sollte. Negative Sicherheitsgarantien durch die USA und das Engagement in einem nord-südkoreanischen Sicherheitsdialog rundeten das Rahmenabkommen ab. Die Umsetzung scheiterte jedoch 2003 an der ungenügenden Finanzierung und der damit verbundenen Verzögerung durch den Widerstand des U.S. Kongresses sowie den Auseinandersetzungen zwischen den USA und Nordkorea über ein angeblich verdecktes Urananreicherungsprogramm. Schliesslich zog sich Nordkorea 2003 definitiv aus dem Atomwaffensperrvertrag zurück. Als Reaktion darauf starteten 2004 die Sechs-Parteien-Gespräche zwischen Nordkorea, Südkorea, China, Japan, den USA und Russland, welche 2009 von Seiten Nordkoreas abgebrochen wurden, nachdem die Vereinten Nationen weitere Sanktionen als Reaktion auf einen nordkoreanischen Raketentest verhängt hatten.[9] Anfangs 2016 schätzte das SIPRI, dass Nordkorea über rund 10 nukleare Sprengköpfe verfügt, wobei deren operationeller Status unbekannt ist.[10] Spätestens mit dem Atombombentest anfangs September 2016 scheint es keinen Zweifel mehr zu geben, dass Nordkorea wenigstens theoretisch in den Club der Nuklearwaffen besitzenden Staaten eingetreten ist.

 

Stand des nordkoreanischen Raketenprogramms

Das nordkoreanische Raketenprogramm basierte ursprünglich auf dem Design der sowjetischen Scud-B Kurzstreckenraketen, welches in den 1980er-Jahren von Ägypten erworben werden konnte.[11] So ist die Hwasong-5 eine Kopie der Scud-B und weist mit einer Reichweite von 300 Kilometern bei einer Nutzlast von 1’000 Kilogramm die gleichen Leistungsdaten auf. Die Hwasong-6 hingegen stellt eine Kopie der Scud-C dar, welche mit einer Nutzlast von 730 Kg rund 500 Km erreichen kann. Erst mit der Nodong und später der Hwasong-10 kam eine neuere Technologie zur Anwendung. An deren Entwicklung waren sowjetische Ingenieure des Makeyev Rocket Design Bureau, die sich wegen des Zusammenbruchs des Ostblocks und der sowjetischen Rüstungsindustrie in den Dienst Nordkoreas gestellt hatten, massgeblich beteiligt. Die Nodong erreicht mit einer Nutzlast von 1’000 Kg rund 900 Km. Die Hwasong-10 basiert auf der R-27 Zyb, einer sowjetischen U-Boot-gestützten Mittelstreckenrakete.[12] Als potentielle Interkontinentalrakete entwickelte Nordkorea die dreistufige Taepodong-2, bei der angenommen wird, dass sie 1’000-1’500 Kg rund 4’000-8’000 Km transportieren kann und teilweise auf Scud-Technologie zurückgreift.[13] Die KN-08, welche in verschiedenen Ausführungen als Modelle an den Militärparaden 2013 bzw. 2015 zu sehen war, basiert beim Antrieb der ersten Stufe ebenfalls auf der Scud-Technologie, die zweite Stufe jedoch auf der R-27-Technologie. Schätzungen gehen davon aus, dass die Nutzlast 400 Kg beträgt, welche über rund 9’000 Km ins Ziel gebracht werden könnte. Es fanden noch keine Test-Flüge statt und ein operationeller Einsatz wird erst in etwa 10 Jahren erwartet.[14]

Im April 2016 testete Nordkorea eine U-Boot gestützte Rakete. Quelle: KCNA via offiziere.ch

Im April 2016 testete Nordkorea eine U-Boot gestützte Rakete. Quelle: KCNA via offiziere.ch

Verhandlungsstrategie 1: Denuklarisierung

Verhandlungen zwischen den USA und Nordkorea sind mit einigen Hürden versehen. Auf der Seite der USA kommen Verhandlungen nur dann in Frage, wenn basierend auf der gemeinsamen Erklärung anlässlich der vierten Runde der Sechs-Parteien-Gespräche in Peking am 19. September 2005 Nordkorea die ersten Schritte zur Denuklarisierung einleitet und wieder dem Atomwaffensperrvertrag beitritt.[15] Aus Sicht der USA darf das erpresserische Verhalten und das Nichteinhalten von Vereinbarungen nicht durch U.S.-amerikanische Zugeständnisse honoriert werden. Nicht nur wäre dies international und gegenüber Südkorea und Japan ein falsches Signal, sondern auch innenpolitisch kaum zu verkaufen.

 

Auf Seiten Nordkoreas kommt eine Denuklarisierung nach dem erfolgreichen Atombombentest vom 9. September 2016 kaum mehr in Frage. Basierend auf dem hohen Mistrauen gegenüber den USA spielen die Nuklearwaffen als Sicherheitsgarantie eine wichtige Rolle. Unter Kim Il-sung und Kim Jong-il war das Nuklearwaffenprogramm ein Faustpfand zur Normalisierung der Beziehungen mit den USA. Das scheint unter Kim Jong-un jedoch nicht mehr der Fall zu sein und eine Normalisierung der Beziehungen ist langfristig utopisch.[16] Ausserdem ist fraglich, ob das derzeitige Regime überhaupt an einer Entspannung der Beziehungen interessiert ist. Nicht nur können bestehende Missstände den USA mittels Propaganda angelastet werden, sondern das Regime legitimiert sich mit der Schutzfunktion gegenüber einer angeblichen US-Aggression.[17] Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, dass Nordkorea einer Denuklarisierung zustimmt – daran werden weder Sanktionen noch weitreichende Zugeständnisse etwas ändern.

 

Verhandlungsstrategie 2: Festlegung einer Höchstzahl und Einfrieren des Raketenprogramms

Wird davon ausgegangen, dass der nukleare Flaschengeist nicht mehr in die Flasche zurückgedrängt werden kann, so muss ein der Realität angepasstes Ziel anvisiert werden. Zur Befriedigung der eigenen Sicherheitsbedürfnisse könnte Nordkorea eine gewisse Höchstzahl von Nuklearsprengköpfen zugestanden werden, welche den USA aufgrund des Raketenschutzschildes nicht gefährlich werden könnten.[18] Damit verbunden wäre eine „three noes policy“: keine Weiterentwicklung von Nuklearwaffen (auch keine Atombombentests), kein Transfer von Nuklearwaffen an andere Staaten und kein (Erst-?)Einsatz von Nuklearwaffen. Damit würde eine ähnliche Verhandlungsstrategie gewählt werden, wie sie bereits im Falle Irans erfolgreich umgesetzt werden konnte.[19] Nordkorea würde diese Verhandlungsstrategie im Gegensatz zur Denuklarisierung wahrscheinlich akzeptieren. Seit Anfang 2015 hat das nordkoreanische Regime mehrmals ein Aussetzen der Atombombentests angeboten, sollten die USA im Gegenzug auf die grossen jährlich stattfindenden Militärmanöver mit Südkorea verzichten.[20]

 

Weiter könnte ein Einfrieren des Raketenprogramms in die Verhandlungen miteinbezogen werden, so dass Nordkorea mit den gebilligten Nuklearsprengköpfen das U.S. Festland nicht erreichen könnte. Natürlich können Südkorea und Japan nicht dem eigenen Schicksal überlassen werden und bedürften eines durch die USA gesicherten Raketenschutzschildes. Der Teufel liegt jedoch im Detail: Die Höchstzahl der Nuklearsprengköpfe müsste aus nordkoreanischer Sicht auf einer Höhe angesetzt werden, bei der im Falle einer Invasion die Raketenschutzschilde überwunden werden könnten – ansonsten hätte diese Sicherheitsgarantie für Nordkorea keinen praktischen Nutzen. Eine solche Höchstzahl ist jedoch für die USA und ihre Alliierten kaum akzeptierbar. Ausserdem müssten die USA logischerweise auf die Denuklarisierung als Vorbedingung für die Aufnahme von Verhandlungen verzichten, was innenpolitisch schwierig vermittelbar wäre. Gegner dieser Strategie würden nicht zu Unrecht kritisieren, dass mit der de-facto-Anerkennung Nordkoreas als Atommacht nicht nur Nordkorea als Gewinner aus der Vereinbarung gehen und ein erpresserisches Regime damit belohnt werden würde, sondern dass damit das nukleare Nichtverbreitungsregime ausgehebelt würde. Insbesondere im Nahen Osten könnten andere Staaten zu einem ähnlich waghalsigen Unterfangen motiviert werden.

Trotz wirtschaftlicher Misere, Hunger und Energieengpässen ist der koreanische Führer unangefochtener Herrscher über das Land. Ein Umsturz hätte unabsehbare Folgen für die gesamte Region. Quelle: offiziere.ch

Trotz wirtschaftlicher Misere, Hunger und Energieengpässen ist der koreanische Führer unangefochtener Herrscher über das Land. Ein Umsturz hätte unabsehbare Folgen für die gesamte Region. Quelle: offiziere.ch

Sanktionen und Regime-Kollaps

Wenn eine direkte Verhandlungsstrategie zwischen den USA und Nordkorea nicht erfolgversprechend erscheint, so vielleicht ein indirekter Weg über einen Vermittlerstaat, der von Seiten der USA respektiert wird und auf Nordkorea genügend Einfluss haben könnte. Hier kommt eigentlich nur China in Frage. Die Abstimmungen im UN-Sicherheitsrat zeigen, dass China an keiner nuklearen Aufrüstung Nordkoreas Interesse hat.[21] Ob sich China jedoch vollumfänglich an die UN-Sanktionen hält, ist fraglich, denn China macht etwas noch mehr Sorgen als ein nukleares Nordkorea: ein vollständiger Kollaps des Regimes.[22] Ein solcher Kollaps könnte den Ausbruch eines Krieges auf der koreanischen Halbinsel, massive Flüchtlingsströme in die chinesischen Grenzprovinzen und den Import von Unruhen bedeuten. Ausserdem würde China im Falle einer Wiedervereinigung Koreas unter der Führung Südkoreas einen anti-amerikanischen Pufferstaat verlieren und gleichzeitig mit einem selbstbewussten US-Alliierten konfrontiert werden. Mit dem Zugang zu den nordkoreanischen Bodenschätzen wäre es damit auch vorbei.[23] Durch den von China als US-amerikanische Eindämmungsstrategie wahrgenommenen „Pivot to East Asia“ ist das Vertrauen Chinas in die USA auch nicht derart gestärkt, dass China das Risiko eines solchen möglichen Szenarios auf sich nehmen möchte.[24] Noch strengere Sanktionen — auch unilateral durch die USA und deren Alliierten — sind zwar möglich, werden aber ohne konsequente Durchsetzung von Seiten Chinas den gewünschten Effekt nicht erzielen.

 

Die US-amerikanische Hoffnung, dass das nordkoreanische Regime mittelfristig kollabieren und sich damit das Problem von alleine lösen könnte, ist unrealistisch. Nicht nur ist die Bevölkerung an die spärlichen Lebensbedingungen gewöhnt, sie ist auch über mindestens drei Generationen international isoliert und mit einer staatlichen Ideologie indoktriniert, welche die Kim-Dynastie über alles stellt und die Schuld für die schlechten Lebensbedingungen allein den USA zuschiebt.[25] Ein Aufstand von Seiten der Bevölkerung ist deshalb unwahrscheinlich. Ausserdem hat Kim Jong-Un seit seiner Machtübernahme im Dezember 2011 seine Position konsolidiert und sich die Rückendeckung durch die Streitkräfte gesichert. Ein Regimewechsel heisst übrigens nicht automatisch, dass dadurch das Problem der Nuklearwaffen und der Trägerraketen gelöst, und das Verhältnis zu den USA besser wäre.[26] Im Gegenteil könnte sich die Situation durch Proliferation in andere Staaten und an Terrororganisationen unkontrolliert verschlechtern. Damit stellt der Kollaps des nordkoreanischen Regimes nicht nur für China, sondern auch für die USA ein hohes, nicht kalkulierbares Risiko dar und ist somit nicht in deren Interesse.

Die Botschaften des Regimes in Pjöngjang sind nicht immer einfach zu interpretieren. Sicher scheint nur, dass ein nukleares Nordkorea eine Tatsache und somit nicht mehr zu verhindern ist. © Chappatte/International Herald Tribune

Die Botschaften des Regimes in Pjöngjang sind nicht immer einfach zu interpretieren. Sicher scheint nur, dass ein nukleares Nordkorea eine Tatsache und somit nicht mehr zu verhindern ist. © Chappatte/International Herald Tribune

Was bleibt: Leben mit dem Status Quo

Sowohl Verhandlungen, wie auch Sanktionen oder die falsche Hoffnung auf einen Regime-Kollaps werden langfristig am Status Quo kaum etwas ändern. Eine militärische Option kommt nicht in Frage; zu hoch ist das Risiko eines zweiten Koreakriegs, bei dem eine unkontrollierte Eskalation bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen nicht ausgeschlossen werden könnte. Ein solches Szenario hätte verheerende Folgen für den gesamten nordostasiatischen Raum, womöglich sogar für die ganze Welt.[27]

 

Den USA und deren Alliierten wird deshalb keine andere Wahl bleiben als sich mit dem Status Quo – das heisst einem nuklearisierten Nordkorea mit interkontinentalen Trägerraketen – abzufinden. Das bedeutet auch, dass der Raketenschutzschild über US-amerikanischem Territorium sowie über den US-Alliierten weiter ausgebaut werden muss und dass die USA über eine glaubhafte, massive Vergeltungskapazität verfügen müssen. So abgesichert liesse es sich gut mit dem Status Quo leben, insbesondere, wenn davon ausgegangen wird, dass sich das nordkoreanische Regime rational verhält.[28] Kim Jong-Un wird durchaus bewusst sein, dass ein Ersteinsatz von Nuklearwaffen das Ende seiner Herrschaft bedeuten würde – sei es durch eine Invasion oder gar durch einen nuklearen Vergeltungsschlag.

 

Patrick Truffer besitzt einen Bachelor in Staatswissenschaften von der ETH Zürich und schliesst derzeit seinen Master in internationalen Beziehungen an der Freien Universität Berlin ab. Dieser Artikel erschien in englischer Sprache auch auf offiziere.ch.

[1]          “North Korea Claims Success in Fifth Nuclear Test”, BBC News, 9. September 2016, http://www.bbc.com/news/world-asia-37314927, besucht: 27. November 2016.

[2]          Ankit Panda, „North Korea’s Musudan Missile Test Actually Succeeded. What Now?“, The Diplomat, 23. Juni 2016, http://thediplomat.com/2016/06/north-koreas-musudan-missile-test-actually-succeeded-what-now/, besucht: 27. November 2016.

[3]          Denny Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, Survival 58, Nr. 3 (Mai 2016), 134.

[4]          Directorate of Intelligence, „North Korea: Potential for Nuclear Weapon Development“, September 1986, 17; Directorate of Intelligence, „North Korea’s Nuclear Efforts“, 28. April 1987, 3; Für mehr Informationen: Robert A. Wampler, „North Korea and Nuclear Weapons: The Declassified U.S. Record“, National Security Archive Electronic Briefing Book No. 87, The National Security Archive, 25. April 2003, http://nsarchive.gwu.edu/NSAEBB/NSAEBB87/, besucht: 27. November 2016.

[5]          Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 133.

[6]          Richard Stone, „North Korea’s Nuclear Shell Game“, Science 303, Nr. 5657 (23. Januar 2004): 453.

[7]          „Interview: Ashton Carter“, Frontline, 3. März 2003, http://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/shows/kim/interviews/acarter.html, besucht: 27. November 2016; Bruce Cumings, „Getting North Korea wrong“, Bulletin of the Atomic Scientists 71, Nr. 4 (Juli 2015): 68f.

[8]          Stone, «North Korea’s Nuclear Shell Game», 453.

[9]          Mark Landler, „North Korea Says It Will Halt Talks and Restart Its Nuclear Program“, The New York Times, 14. April 2009, http://www.nytimes.com/2009/04/15/world/asia/15korea.html, besucht: 27. November 2016,.

[10]         Shannon N. Kile und Hans M. Kristensen, „Trends in World Nuclear Forces, 2016“, SIPRI Fact Sheet (Juni 2016), https://www.sipri.org/sites/default/files/FS%201606%20WNF_Embargo_Final%20A.pdf.

[11]         Mark Fitzpatrick, North Korean security challenges: a net assessment, London: International Institute for Strategic Studies, 2011, 129; Andrea Berger, „Disrupting North Korea’s Military Markets“, Survival 58, Nr. 3 (3. Mai 2016), 104.

[12]         Fitzpatrick, North Korean security challenges, 130ff.

[13]         Joseph S. Bermudez, „A history of ballistic missile development in the DPRK“, Occasional Paper 2, Monterey Institute of International Studies, Center for Nonproliferation Studies, 1999, 26.

[14]         John Schilling, Jeffrey Lewis, und David Schmerler, „A New ICBM for North Korea?“, 38 North, 22. Dezember 2015, 2, http://38north.org/wp-content/uploads/2015/12/38-North_ICBM-Report122215.pdf.

[15]         „Joint Statement of the Fourth Round of the Six-Party Talks Beijing, September 19, 2005“, https://www.state.gov/p/eap/regional/c15455.htm, besucht: 27. November 2016.

[16]         Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 131.

[17]         Vgl.: B.R. Myers, „Taking North Korea at its word“, NK News, 13. Februar 2016, https://www.nknews.org/2016/02/taking-north-korea-at-its-word/, besucht: 27. November 2016.

[18]         Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 137f.

[19]         Dingli Shen, „North Korea, Nuclear Weapons, and the Search for a New Path Forward: A Chinese Response“, Bulletin of the Atomic Scientists 72, Nr. 5 (2. September 2016): 345; Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 138.

[20]         Vgl.: Jon Min Dok, „Suspend the U.S.-South Korea joint military exercises for peace“, NK News, 15. März 2016, https://www.nknews.org/2016/03/suspend-the-u-s-south-korea-joint-military-exercises-for-peace/, besucht: 27. November 2016; „N. Korea’s Kim hails ’twereuccessful‘ submarine missile test“, AFP, 24. April 2016, https://www.yahoo.com/news/north-koreas-kim-hails-successful-submarine-missile-test-031123917.html, besucht: 27. November 2016; Chung-in Moon, „North Korea, Nuclear Weapons, and the Search for a New Path Forward: A South Korean Response“, Bulletin of the Atomic Scientists 72, Nr. 5 (2. September 2016), 344.

[21]         China hat beispielsweise am 2. März 2016 für die Resolution 2270 des UN Sicherheitsrates gestimmt, welche als Antwort auf den 4. nordkoreanischen Atombombentest verabschiedet wurde und weitgehende wirtschaftliche Sanktionen beinhaltet. UN Security Council, Resolution 2270 (2016), 2. März 2016. Vgl.: Kim Dae-gi, „Wu Dawei says ‚N. Korea signed its own death warrant'“, Pulse by Maeil Business News Korea, 3. März 2016, http://pulsenews.co.kr/view.php?year=2016&no=168073, , besucht: 27. November 2016.

[22]         Jane Perlez, „Few Expect China to Punish North Korea for Latest Nuclear Test“, The New York Times, 11. September 2016, https://www.nytimes.com/2016/09/12/world/asia/north-korea-china-nuclear-sanctions-thaad-america.html, besucht: 27. November 2016.

[23]         Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 143.

[24]         Siehe dazu auch: Patrick Truffer, „Der U.S. «Pivot to East Asia»“, VSN Bulletin 2016, Nr. 4, S. 1-6.

[25]         Vgl.: Cumings, „Getting North Korea wrong“, 70f.

[26]         Ebd., 64; Roy, „Preparing for a North Korean Nuclear Missile“, 133ff.

[27]         „Interview: Ashton Carter“; Cumings, „Getting North Korea wrong“, 68f; Moon, „North Korea, Nuclear Weapons, and the Search for a New Path Forward“, 343f.

[28]         „Kim Jong-un: North Korea is a responsible nuclear state“, Al Jazeera, 8. Mai 2016, http://www.aljazeera.com/news/2016/05/north-korea-nuclear-weapons-160508040813994.html, , besucht: 27. November 2016.

Buchbesprechung: Jacques Baud, “Terrorisme: mensonges politiques et stratégies fatales de l’Occident”

Dr. Adrian Hänni

Baud Terrorisme coverIn seinem Buch “Terrorisme: mensonges politiques et stratégies fatales de l’Occident” übt Jacques Baud radikale Kritik am “Krieg gegen den Terrorismus”, wie er vom Westen, und insbesondere von den USA, Grossbritannien und Frankreich, geführt wird. Mit den Worten des Autors: „Die westliche Zurückhaltung bei dem Versuch, die asymmetrischen Mechanismen des Dschihad zu verstehen, führte zum Einsatz von ‚harten’ Strategien gegenüber dem Terrorismus. Diese Bestimmtheit – um nicht zu sagen, Kompromisslosigkeit – gegenüber den Islamisten wird im Westen als effektive und abschreckende Strategie verstanden. Die Erfahrung hingegen zeigt, dass dieses Vorgehen in sich selbst die Keime einer Beförderung des Dschihads trägt.“[1] (S. 258)

Oberst im Generalstab Jacques Baud blickt auf eine lange Karriere als Analyst im Strategischen Nachrichtendienst (SND) zurück. Seine Expertise stellte er auch in verschiedenen Konfliktgebieten in den Dienst der Vereinten Nationen. Beispielsweise war der Westschweizer ab 2005 Chef des Nachrichtenwesens bei der Mission der Vereinten Nationen im Sudan (UNMIS) und als solcher direkt dem Sondergesandten des UNO-Generalsekretärs unterstellt.

Laut seiner Hauptthese handelt es sich beim dschihadistischen Terrorismus um eine Art „Resistance“, einen Widerstand gegen die westlichen Militäraktionen in der muslimischen Welt. Dieser Zusammenhang zwischen Aussenpolitik westlicher Staaten und dschihadistischem Terrorismus werde aber im Westen nicht verstanden, beziehungsweise von den dortigen Regierungen bewusst ausgeblendet. Das Resultat dieser Unfähigkeit, die Ursachen des Terrorismus zu verstehen, hätten zu kontraproduktiven Antiterrormassnahmen geführt, welche eine sich ständig weiterdrehende Gewaltspirale antrieben. Baud will damit keinesfalls den Einsatz terroristischer Gewalt durch die Dschihadisten legitimieren – im Gegenteil, er verurteilt diesen scharf – möchte aber aufzeigen, wie sich durch eine präventive Strategie die Grosszahl der Attentate vermeiden liessen.

Terrorisme lässt sich in fünf inhaltliche Blöcke gliedern.[2] In einem ersten Teil (S. 15-80) werden mit historischer Tiefe einige Akteure vorgestellt, denen der Autor eine wichtige Funktion bei der Entstehung beziehungsweise bei der Bekämpfung des dschihadistischen Terrorismus zuschreibt. Im zweiten Teil (S. 81-256) liefert der Autor einen historischen Abriss der letzten ungefähr 25 Jahre, in dem es ihm im Wesentlichen darum geht, „die begangenen Fehler zu verstehen“ und „die Wendepunkte zu identifizieren“ (S. 14), die uns in die heutige Gewaltspirale katapultiert haben.

Jacques Baud, vielen unserer Leser als Experte und Initiator der grossartigen Ausstellung im Zeughaus in Morges bekannt. Quelle: Tribune de Genève

Jacques Baud, vielen unserer Leser als Experte und Initiator der grossartigen Ausstellung im Zeughaus in Morges bekannt. Quelle: Tribune de Genève

Im dritten Teil des Buches (S. 257-305) wird der dschihadistische Terrorismus von heute einer strategischen Analyse unterzogen. Baud argumentiert hier sehr überzeugend, dass die Anschläge im Westen nicht das Ersetzen der abendländischen durch eine islamische Kultur zum Ziel haben, wie das von Politkern und Experten häufig behauptet wird. Im Visier der Dschihadisten seien demgemäss nicht das demokratische System oder gar die Existenz der säkularen westlichen Nationalstaaten: „Seitens der terroristischen Aktion lassen sich weder irgendwelche Mechanismen zur Massenmobilisierung feststellen noch die Planung eines weitergehenden Gewalteinsatzes, der eine tief greifende Destabilisierung des Staates auslösen könnte. Der dschihadistische Terrorismus ist nicht für die Revolution konfiguriert.“ (S. 264) Seine Ziele seien vielmehr ein Disengagement des Westens in der islamischen Welt, nicht nur militärisch, sondern auch politisch, religiös oder humanitär. Die Verbreitung des Islams in den westlichen Gesellschaften würde nicht mittels Terrorismus, sondern durch Emigration und finanziellen Investitionen Saudi-Arabiens und anderer Golfmonarchien vorangetrieben. Anschläge seien für diese langfristigen Prozesse kontraproduktiv, da sie in den westlichen Gesellschaften lediglich zu einer Restriktion der muslimischen Einwanderung führten.

Im vierten Teil des Buches (S. 307-377) evaluiert Baud die Massnahmen, welche die USA seit 9/11 und Frankreich seit den Anschlägen von 2015 zur Bekämpfung des Terrorismus ergriffen haben. Dabei zeigt er, in den meisten Fällen sehr überzeugend, dass die einzelnen Praktiken ineffizient, ineffektiv und oft sogar kontraproduktiv waren. Bezüglich der Analysearbeit stellt der Insider Baud mit Bedauern fest, dass die Nachrichtendienste in Europa und den USA die Produktion strategischer Analysen („renseignement stratégique“) – das heisst Einschätzungen der Doktrinen, Ziele, Kulturen, Kontexte, Kapazitäten und Schwachstellen des Gegners – beinahe vollständig eingestellt hätten und sich fast ausschliesslich auf das Sammeln taktischer Informationen beschränkten. Statt der politischen Führung die notwendige Grundlage für ihre strategischen Entscheidungen zu liefern, würden sich die Nachrichtendienste heute weitegehend „selber aufklären“ („se renseigner“) für die von ihnen selbst durchgeführte, weitgehend militarisierte Terrorabwehr.

Der Jihad ist eine Art Résistance, ein Widerstand gegen den westlichen Interventionismus in den muslimischen Staaten meint Jacques Baud. Quelle: Youtube

Der Jihad ist eine Art Résistance, ein Widerstand gegen den westlichen Interventionismus in den muslimischen Staaten meint Jacques Baud. Quelle: Youtube

Im fünften Teil des Buches werden abschliessend einige Grundsatzüberlegungen für ein effektives Vorgehen gegen den dschihadistischen Terrorismus formuliert (S. 377-420). Dazu schlägt Baud eine analytische Trennung von „contre-terrorisme“ und „anti-terrorisme“ vor. „Contre-terrorisme“ umfasst die strategische Dimension der Terrorbekämpfung, die nach Ansicht des Autors heute so gut wie inexistent ist. Diese Dimension richtet ihr Augenmerk auf die „prise de décision terroriste“, die Entscheidung politischer Akteure terroristische Gewalt auszuüben, und versucht sie mittels präventiver Massnahmen zu beeinflussen. Diese, nur ansatzweise skizzierte, Präventionsstrategie umfasst für Baud „alle gesellschaftlichen Aspekte im Innern“ (S. 379), darunter insbesondere die Prävention von Radikalisierung, ein Ende der westlichen Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten (zumindest in ihrer heutigen Form), weniger Allianzen mit antidemokratischen Regimes, sowie ein Überdenken der Art und Weise, wie politische und zivilgesellschaftliche Akteure Globalisierungsprozesse in der muslimischen Welt fördern und sie ihr aufzwängen. Der Westen würde dabei häufig neue Ungleichgewichte in den dortigen Gesellschaften schaffen, die zu Spannungen führten und einen Schutzreflex auslösten gegen das, was als „Kulturimperialismus“ wahrgenommen werde.

Im Gegensatz zu dieser strategischen Dimension beschäftigt sich „anti-terrorism“ mit der taktischen Dimension der Terrorabwehr. Wenn gewisse Akteure sich trotz den präventiven Massnahmen zur Durchführung von Anschlägen entschliessen, müssen diese durch präemptive polizeiliche und nachrichtendienstliche Massnahmen verhindert werden. Im Gegensatz zu heute, wo sie übermässig und kontraproduktive eingesetzt würden, dürften diese taktisch-präemptiven Praktiken aber nicht den Erfolg der präventiven Massnahmen gefährden, sondern sollten sich in die Strategie der Terrorismusbekämpfung einfügen. Bauds analytische Überlegungen zu „contre-terrorisme“ und „anti-terrorism“ könnten Politikern, Nachrichtendiensten und Sicherheitsexperten durchaus als Leitfaden dienen, um eine ausgewogenere und erfolgreichere Strategie zu formulieren.

Leider hat das Buch aber auch gravierende Schwächen. So enthält es sehr, sehr viele faktische Ungenauigkeiten und Fehler. Beispielsweise berichtet der Autor, Stalin habe der jüdischen Gemeinde von den 1940er bis in die 1960er Jahre ein gewisses Vertrauen entgegengebracht (S. 31). Abgesehen davon, dass der sowjetische Diktator bekanntlich schon 1953 das Zeitliche gesegnet hat, erwähnt Baud selbst nur zwei Seiten später die antijüdischen Pogrome sowie die Kampagnen gegen die Juden in der sowjetischen Administration und den Sicherheitsdiensten. Weiter vermischt der Autor die Iran-Contra-Affäre von 1985/86 mit der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im Iran von 1979-1981 (S.63); der Anschlag auf die PanAm 103, die am 21. Dezember 1988 über Lockerbie abstürzte, wird ins Jahr 1989 gelegt (S. 158), das Attentat auf den Boston Marathon vom April 2013 dagegen ins Jahr 2012 zurückdatiert (S. 324) usw.

Als Quelle für die Aussage, die Taliban hätten nach 9/11 die USA aufgefordert, einen konstruktiven Vorschlag zur Lösung der Krise zu unterbreiten, verweist der Autor auf einen geheimen Bericht der US-Botschaft in Islamabad von 1998(!). Dieses Beispiel ist leider beispielhaft für den bisweilen etwas schludrigen Umgang mit den Quellen. Wiederholt werden selbst kontroverse Darstellungen gar nicht oder völlig ungenügend belegt – etwa, dass es sich beim Anschlag auf die in den Khobar Towers untergebrachten US-Truppen in Saudi-Arabien im Juni 1996 um eine False-Flag-Operation von Mitgliedern des saudischen Regimes handelte (S. 85), oder dass die USA, Israel und Frankreich die Al-Nusra-Front in Syrien unterstützt hätten (S. 208). Dieses Vorgehen steht in seltsamem Widerspruch zur Forderung des Autors nach kritischer Reflexion der Medienberichterstattung, weil diese für politische Manipulationen instrumentalisiert werde.

Während diese Unzulänglichkeiten hauptsächlich auf „Nebenkriegsschauplätzen“ angesiedelt sind, entsprechen auch einige zentrale Argumente nicht dem aktuellen Forschungsstand. Baud hält etwa fest, dass der Westen bei Beginn der Luftangriffe auf den Islamischen Staat (IS) im August/September 2014 nicht direkt von diesem bedroht gewesen sei und es sich folglich bei seinem militärischen Engagement in Irak und Syrien nicht um eine Schutzmassnahme gehandelt habe. Bei den folgenden Anschlägen des IS in Europa wie insbesondere denen in Paris im Januar und November 2015 handle es sich deshalb um eine Reaktion, um den Westen zu einer Einstellung der Luftschläge zu bewegen („opération des dissuasion“; S. 244-246, 255).

Da die Terrorabwehr alleine nicht wirkt, müssen präventive Massnahmen ergriffen werden (Bild: belgische Polizisten im Bezirk Moolenbeek) © picture alliance/dpa

Da die Terrorabwehr alleine nicht wirkt, müssen präventive Massnahmen ergriffen werden (Bild: belgische Polizisten im Bezirk Moolenbeek) © picture alliance/dpa

Unterdessen ist aber klar, dass der IS spätestens seit Ende 2013, und damit fast ein Jahr vor Beginn der amerikanischen Bombardierungen, Kämpfer zur Durchführung von Attentaten nach Europa gesandt hat. Im Sommer 2014 waren diese terroristischen Umtriebe von den westlichen Nachrichtendiensten eindeutig erkannt worden. Beispielsweise stand Mehdi Nemmouche, der am 24. Mai 2014 im Jüdischen Museum in Brüssel das Feuer eröffnet und vier Menschen getötet hat, in direktem Kontakt mit Abdelhamid Abaaoud, dem Europaverantwortlichen des IS-Dienstes für externe Operationen und später Kommandant der Anschläge in Paris vom November 2015.[3] Baud dagegen nennt den Anschlag auf das Jüdische Museum als Beispiel für „individuellen Dschihad“, der völlig ohne Verbindungen zu den IS-Strukturen in Syrien vom Attentäter selbst geplant, finanziert und durchgeführt worden sei (S. 299-300). Die Beschreibung von Beginn, Struktur und Zielen des „IS-Terrorismus“ in Europa ist exemplarisch für Bauds Tendenz, zur Stützung seiner Argumentation wichtige Nuancen zu planieren und die Komplexität auf unangemessene Weise zu reduzieren.

Trotz diesen Mängeln verdient Jacques Bauds flüssig geschriebenes Buch mit seiner gut begründeten und durch umfangreiches Quellenmaterial getragenen Hauptthese die Aufmerksamkeit von Sicherheitspolitikern, Nachrichtendienstlern und all denjenigen, die zu den Themen Terrorismus, Sicherheit oder Frieden forschen. Für Studenten auf Bachelor-Stufe und jene, die sich erst ins Thema Terrorismus einlesen möchten, ist Terrorisme wegen der vielen inhaltlichen Fehler und gelegentlicher Probleme bei der Quellenkritik hingegen eher nicht geeignet. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass bald eine englische oder deutsche Ausgabe erscheint, in welcher die verschiedenen Mängel behoben sind.

Jacques Baud, “Terrorisme: mensonges politiques et stratégies fatales de l’Occident”, Monaco: Éditions du Rocher, 2016, 424 Seiten, 17.52 Euro.

 Dr. Adrian Hänni ist Postdoc Fellow an der Universität Leiden (NL) und Dozent für politische Geschichte an der Fernuniversität Freiburg. Er lebt in Washington D.C. und Zürich.

[1] Alle Übersetzungen aus dem Französischen durch den Rezensenten.

[2] Dabei handelt es sich um eine Strukturierung des Inhalts durch den Rezensenten, die nicht strikt der Gliederung des Autors folgt

[3] Rukmini Callimachi, How ISIS Built the Machinery of Terror Under Europe’s Gaze, New York Times, 29. März 2016, http://www.nytimes.com/2016/03/29/world/europe/isis-attacks-paris-brussels.html besucht 31.10.2016; Rukmini Callimachi, How a Secretive Branch of ISIS Built a Global Network of Killers, New York Times, 3. August 2016, http://www.nytimes.com/2016/08/04/world/middleeast/isis-german-recruit-interview.html, besucht 31.10.2016.

Buchbesprechung: Schweizer Terrorjahre – Das geheime Abkommen mit der PLO

Lukas Hegi, CR VSN-Bulletin

6_hegi_rezension_buchcoverDer nie restlos aufgeklärte und ungesühnte Terroranschlag auf eine Maschine der Swissair im Jahre 1970 bewegt die Gemüter bis heute. Viele Spekulationen standen im Raum, doch fehlten bisher stichhaltige Beweise, um die Vermutungen zu belegen. Der Journalist Marcel Gyr von der Neuen Zürcher Zeitung  wartet  nun  mit  einer  aufsehenerregenden  These  auf, welche die fehlende juristische Aufarbeitung erklären könnte.

Am 21. Februar 1970 explodierte in einer  Coronado  der  Swissair eine Bombe. Das Flugzeug stürz-te  daraufhin in den Wald  von Würenlingen. Alle 47 Passagiere und Besatzungsmitglieder waren sofort tot. Es war und ist der bislang schwerste Terroranschlag in der Schweizer Geschichte. Die Tragik daran: Die Bombe, welche die Swissair-Maschine an diesem Februarmorgen zum Absturz brachte, hätte eigentlich in einer israelischen Maschine, auf dem Weg von München nach Tel Aviv, liegen sollen. Wegen einer Verspätung wurde das Paket mit der Bombe aber umgeleitet und landete schliesslich in der Coronado der Swissair.

Selbst wenn der Anschlag offenbar nicht gegen die Schweiz gerichtet war, kam er für die Behörden nicht unerwartet. Grund dafür war das im Jahr zuvor abgeschlossene Verfahren gegen drei Palästinenser, welche am Flughafen Zürich ein Flugzeug der El Al am Boden mit Handfeuer-waffen  angegriffen hatten. Drei der vier Attentäter konnten fest-genommen werden und erhielten im Dezember 1969 in Winterthur Zuchthausstrafen von 12 Jahren. Für dieses Urteil erntete die Schweiz scharfe Kritik aus der arabischen  Welt. Zudem warf man ihr Parteinahme zugunsten Israels vor. Die drei Verurteilten mussten ihre Strafe aber nicht lange absitzen. Sie wurden bereits im folgenden Jahr zusammen mit anderen inhaftierten Gesinnungsgenossen durch die Entführung von drei Flugzeugen nach Zerqa in die jordanische Wüste freigepresst.

Der Hauptgrund aber, warum bei den Betroffenen das Stichwort Würenlingen die Emotionen immer noch hochgehen lässt, ist der Umstand, dass den Verantwortlichen nie der Prozess gemacht wurde, ja gar der Anschein entstand, man wolle sie gar nicht zur Rechenschaft ziehen. Hier setzt Gyr an. Der Grund für den Unwillen zur Strafverfolgung sei ein zwischen dem damaligen Bundesrat Graber (SP) und den Palästinensern ausgehandeltes Abkommen gewesen. Demnach hätte Graber im Alleingang über Jean Ziegler Kontakt zu den Palästinensern aufgenommen und ihnen angeboten, dass sich die Schweiz dafür einsetzen würde, ihre politischen Interessen zu fördern – mit der Einrichtung einer Vertretung in Genf – wenn sie sich im Gegenzug auf einen Verzicht von Terrorakten gegen Schweizer Ziele verpflichten würden. So die These Gyrs.

Brisant daran ist, dass Graber den Schritt auf die Palästinenser zu noch während der Geiselkrise in Zerqa unternahm, wodurch er, wie Gyr zu Recht kritisiert, die Rolle der Schweiz als «lead nation» des Sonderstabes für die Verhandlungen zu kompromittieren drohte, wären diese Kontakte bekannt geworden. Graber setzte nicht  nur  den  Ruf  der  Schweiz aufs Spiel, sondern riskierte mit diesem  Schritt,  persönlich  sehr viel zu verlieren.

Es ist Marcel Gyr hoch anzurechnen, dass er den Mut und den Willen hatte, die These des Geheimabkommens zu verfolgen, und in einer verständlichen und nicht akademisch trockenen Weise aufzuarbeiten. Im Gewirr internationaler Geheimdiplomatie Spuren zu verfolgen, spricht für  seine  Hartnäckigkeit. Dass Schlüsselpersonen des Deals inzwischen verstorben sind, macht die  Sache  nicht  einfacher. Gyr hat sorgfältig recherchiert und kann seine These durch die Gespräche mit den Zeitzeugen plausibel untermauern. Auch wenn letztendlich der Beweis für den Deal nie wird erbracht werden können, da es darüber keine Aufzeichnungen gibt.

Nicht ganz unproblematisch  ist die Rolle von Jean Ziegler, der gewissermassen  als  Kronzeuge auftritt. Ziegler hat sich mit seinen oft unkonventionellen Thesen und seiner wenig zurückhaltenden Art viele Feinde gemacht. Seine Glaubwürdigkeit hat er jedoch mit seiner offensichtlich erfundenen Geschichte vom «Schlachtfeld von Thun» verspielt. So bleiben nach der Lektüre auch hier wieder Zweifel betreffend seiner tatsächlichen Rolle zurück.

Leider haben sich auch sonst noch ein paar kleine Unsorgfältigkeiten  eingeschlichen. Die Behauptung zum Beispiel, dass sich bis zum Absturz des russischen Airbuses über dem Sinai 2015 nur drei weitere Anschläge auf die zivile Luftfahrt mit Bomben ereignet hätten, ist falsch und widerspricht selbst der Erzählung von Gyr. Eine einfache Recherche fördert bereits mindestens ein Dutzend weiterer Anschläge zutage. Und auch die Behauptung der Entführer von Zerqa, dass sie einen dritten Weltkrieg auslösen könnten mit ihrer Tat, baut der Autor etwas gar unkritisch in seine Arbeit ein.

«Schweizer Terrorjahre» kann den endgültigen Beweis für einen Deal mit den Palästinensern nicht erbringen. Das ist auch Gyr klar. Abgesehen von kleinen Mängeln – die dann in einer überarbeiteten zweiten Auflage hoffentlich beseitigt sein werden – liefert das Buch aber ein solides Fundament an Fakten und Ansichten von Zeitzeugen. Es transportiert seine Grundthese plausibel und überzeugend zum Leser.

Marcel Gyr, Schweizer Terrorjahre-Das geheime Abkommen mit der PLO. Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2016, Preis: 37.90 Franken.

Die Bilder von der Sprengung der drei entführten Flugzeuge in Zerqa warfen Schockwellen rund um den Globus. / Bild: Popperfoto (Getty Images)

Die Bilder von der Sprengung der drei entführten Flugzeuge in Zerqa warfen Schockwellen rund um den Globus. / Bild: Popperfoto (Getty Images)

 

Zur Strategie des IS hinter den Anschlägen in Europa und den USA – Was will der Islamische Staat?

Dr. Adrian Hänni und Lukas Hegi

In einem Leitartikel räsonierte neulich der Chefredaktor einer Schweizer Tageszeitung anlässlich der Gewalttat von Nizza über das Kalkül hinter den Anschlägen des IS in den europäischen Städten und gelangte dabei zur Einschätzung, dass die Fanatiker dabei sind, den „Krieg gegen die Zivilisten zu verlieren.“[1]

„Die Waffe welche, welche die Verblendeten Terroristen einsetzen, ist Angst: Die Menschen in Europa sollen sich nirgends mehr sicher fühlen und überall mit Anschlägen rechnen. Das Kalkül dahinter: Verängstigte Bürgerinnen und Bürger sollen letztlich ihre Regierungen dazu bewegen, den Kampf gegen die Dschihadisten einzustellen, um weiteren Anschlägen zu entgehen.“[2]

Diese Aussagen aus genanntem Leitartikel sind unscharf und problematisch, aber sie sind eben auch exemplarisch für die weitverbreitete Fehleinschätzung der Motive des IS, Terroranschläge im Westen zu inspirieren und zu organisieren – Ausdruck eines Unverständnisses der Terrormiliz, wie es leider in vielen Redaktionsstuben vorherrscht. Da wir uns gezwungenermassen mit der Bedrohung durch den IS auseinandersetzen müssen, sollten wir uns aber über die Ziele des Gegners im Klaren sein.

An der Gedenkfeier für die Opfer der verheerenden Tat von Nizza, kam es zu Übergriffen auf muslimische Angehörige von Opfern. / Quelle: LATimes

An der Gedenkfeier für die Opfer der verheerenden Tat von Nizza, kam es zu Übergriffen auf muslimische Angehörige von Opfern. / Quelle: LATimes

In Erwartung der Apokalypse

Eine weit verbreitete Meinung scheint zu sein, dass die IS-Führer westliche Bevölkerungen dazu bringen wollen, aus Angst vor weiteren Anschlägen ihre Regierungen dazu zu bewegen, den Militäreinsatz gegen die Miliz einzustellen. Aus sichergestellten und geleakten Dokumenten sowie diversen Schriften und Videos von Anhängern und Strategen des IS wissen wir aber, dass das Ziel ziemlich genau das Gegenteil ist. Die Terroranschläge in Europa sollen die westlichen Regierungen nicht etwa zur Einstellung ihrer Angriffe gegen den IS in Irak und Syrien bewegen, sondern diese vielmehr zu einer Eskalation ihres dortigen Militärengagements und zu einem Einsatz von Bodentruppen provozieren.

Diesem Vorhaben liegt einerseits ein strategisches Kalkül zugrunde: Der Konflikt soll sich glaubhafter als ein Krieg des Westens gegen die Muslime darstellen lassen. Vor allem aber ist es Teil des millennaristischen Projekts der religiösen Fanatiker, die sich als Krieger in der letzten, entscheidenden Schlacht sehen. Die Logik des IS ist nämlich stark von apokalyptischen Prophezeiungen geprägt. Die Jihadisten wähnen sich in der Endzeit und erwarten die entscheidende Schlacht mit den Ungläubigen (also den westlichen Streitkräften) in Dabiq, einer syrischen Stadt nahe der türkischen Grenze, welche der IS im Sommer 2014 erobert hat. Diese Obsession mit dem Ende der Welt ist entscheidend, wenn man die exzessive Gewalt des IS verstehen will. Als im November 2014 in einem Video der Terrormiliz die Exekution des ehemaligen US-Soldaten Peter Kassig verkündet wurde, behauptete ein britischer IS-Kämpfer: „Here we are burying the first American crusader in Dabiq, eagerly waiting for the remainder of your armies to arrive.” [3]

Auch in der Twitter-Sphäre lässt sich diese Endzeiterwartung greifen, in der feindliche Militärinventionen paradoxerweise mit Freude begrüsst werden. Als das türkische Parlament im Oktober 2014 Militärschläge gegen den IS in Irak und Syrien autorisierte, jubilierte ein IS-Sympathisant: „Turkey’s entry into the war will permit the foreign invasion of northern Syria, meaning from the plain of Dabiq. The battles [of the End Times] have grown near.“[4]

Die IS-Kämpfer wiederum beten zu Gott, dass er den Islamischen Staat beschütze und unterstütze, bis seine Armee bei Dabiq gegen die Kreuzritter kämpft.[5] „If you think all these mujahideen came from across the world to fight Assad, you’re mistaken“,erklärte wiederum ein jihadistischer Kämpfer in Aleppo. „They are all here as promised by the Prophet. This is the war he promised – it is the Grand Battle.“[6]

Die apokalyptische Idee findet sich in ähnlicher Form auch schon in Dokumenten von al-Qaida und hat Abu Musab al-Zarqawi dazu veranlasst, 2002 in den Irak zu gehen, um die Invasion der USA und ihrer Verbündeten zu erwarten. Für Zarqawi bedeutete Dabiq die letzte Bestimmung für das „Feuer“, das seine Kämpfer „im Irak entfacht“ hatten.[7]

Für den IS steht über allem die Erfüllung der Prophezeiung von der Endzeitschlacht gegen die "Kreuzritter" bei Dabiq. / Quelle: Dabiq

Für den IS steht über allem die Erfüllung der Prophezeiung von der Endzeitschlacht gegen die „Kreuzritter“ bei Dabiq. / Quelle: Dabiq

Eliminierung der Grauzone

Neben einer Eskalierung des militärischen Konflikts geht es den IS-Führern in erster Linie darum, die westlichen Gesellschaften zu spalten und zu polarisieren. Sie nennen diese Strategie „Eliminierung der Grauzone“ (engl. „Extinction of the Grayzone“), wobei die Grauzone für die friedliche Koexistenz der religiösen Gruppen steht. Das spezifische Ziel der Anschläge ist, Feindseligkeiten loszutreten zwischen den muslimischen Bevölkerungen und den westlichen Gesellschaften, in denen sie leben. Der IS versucht so bewusst, eine Gegenreaktion der westlichen Regierungen und Bevölkerungen gegen die muslimischen Minderheiten auszulösen und beide Seiten in einer eskalierenden Spirale von gegenseitiger Entfremdung, Misstrauen, Hass und kollektiver Rache festzusetzen. Die Terrormiliz will sich in einem solchen Szenario als einzig wirksame Schutzmacht der zunehmend belagerten europäischen Muslime aufspielen, welche sich, so das Kalkül, in grosser Zahl zur hijra, der Emigration in den Schoss des Kalifats, entschliessen werden.[8]

Natürlich hat nicht jeder Gewalttäter, der in Europa oder den USA im Namen des IS einen Anschlag verübt, genau diese Ziele im Kopf. Ihre Motive sind oft sehr persönlich und auch nicht immer überwiegend ideologisch-politscher Natur. Einigen dient das Label „Islamischer Staat“ wohl vor allem dazu, ihren Untaten grössere Aufmerksamkeit zu verschaffen und einen höheren Sinn zu geben. Die Strategen und Anführer des IS, die Anschläge im Westen organisieren, dirigieren, inspirieren und für sich reklamieren, handeln jedoch nach dieser „Strategie der Spaltungen“. Zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in den westlichen Gesellschaften einerseits, zwischen dem Westen und der islamischen Welt andererseits.

„The group thrives on division and rage. Abu Bakr Al Baghdadi — the self-crowned caliph of this death cult — wants to make this a war between Islam and the West. But we don’t have to play by his rules.“[9]

 Eine erstarkende Rechte macht den europäischen Sicherheitsbehörden sorgen. In Frankreich warnte der Direktor des französischen Inlandgeheimdienstes vor dem "Kippen der gesellschaftlichen Balance". Die Aufnhame stammt von einer Anti-Islam Kundgebung in Prag vom 6. Februar 2016. (Photo by Matej Divizna/Getty Images)

Eine erstarkende Rechte macht den europäischen Sicherheitsbehörden sorgen. In Frankreich warnte der Direktor des französischen Inlandgeheimdienstes vor dem „Kippen der gesellschaftlichen Balance“. Die Aufnhame stammt von einer Anti-Islam Kundgebung in Prag vom 6. Februar 2016. (Photo by Matej Divizna/Getty Images)

 

Die Falle der Jihadisten

Wenn man also analysieren will, ob die Jihadisten mit ihrer menschenverachtenden und brutalen Strategie des Terrors erfolgreich sind, muss man sie an ihren eigenen Zielen messen. Wir sind optimistisch, dass die westlichen Demokratien diese Herausforderung erfolgreich meistern können, warnen aber vor der zuweilen blinden Naivität, dies als Selbstverständlichkeit zu betrachten. Beim bereits erwähnten Schweizer Leitartikler klingt das so: „Jeder weitere Anschlag hinterlässt tiefe Betroffenheit und Mitgefühl, aber keine Angst. Trotz der Terrorattacken halten die Europäer an ihren freiheitlichen Werten fest; die Menschen gehen an Konzerte und andere Grossanlässe, lassen sich ihr Leben nicht diktieren. Die Rechnung der Fanatiker geht nicht auf, sie sind dabei den Krieg zu verlieren, den sie gegen Zivilisten führen.“[10]

Wirklich? In den USA forderte der Präsidentschaftskandidat der Republikaner wegen der Terrorgefahr eine Einreisesperre für sämtliche Muslime und rief offen zu Gewalt gegen Andersdenkende auf. In vielen europäischen Staaten nehmen Übergriffe, Diskriminierungen und öffentliche Hassreden gegen Muslime rasant zu. In Deutschland kam es 2015 zu 75 politisch motivierten Angriffen gegen Moscheen, mehr als dreimal so viel wie noch im Jahr 2010. In lediglich 16 Fällen wurden Verdächtige ermittelt.[11] AfD-Vize Alexander Gauland forderte unlängst gar die Aussetzung des Asylrechts für muslimische Flüchtlinge, nachdem ein junger Mann mit einer Axt Passagiere in einem Regionalzug bei Würzburg angegriffen und sich ein weiterer in Ansbach in die Luft gesprengt hatte.[12] In Frankreich werden diesen Sommer zahlreiche Grossveranstaltungen und Märkte mit Verweis auf die Terrorgefahr abgesagt. Das Land befindet sich seit acht Monaten im Ausnahmezustand, welcher es der Polizei erlaubte, tausende, oftmals willkürliche Razzien ohne Gerichtsbeschluss durchzuführen, und der nach der Tragödie in Nizza um weitere sechs Monate verlängert wurde. Bei den öffentlichen Trauerfeiern auf der Promenade des Anglais in Nizza wurden Söhne und Töchter von muslimischen Opfern des Anschlags vom 14. Juli von der Menge angegriffen.[13] Der Direktor des französischen Inlandsgeheimdienstes, Patrick Calvar, erläuterte neulich dem Parlament seine Befürchtung, dass die Radikalisierung einer hochgerüsteten Ultrarechten, welche die Konfrontation mit der muslimischen Gemeinschaft sucht, die gesellschaftliche Balance zum Kippen und Frankreich gar an den Rand eines Bürgerkrieges bringen könnte:

„Cela d’autant que l’Europe est en grand danger: les extrémismes montent partout et nous sommes, nous, services intérieurs, en train de déplacer des ressources pour nous intéresser à l’ultra-droite qui n’attend que la confrontation. Vous rappeliez que je tenais toujours un langage direct; eh bien, cette confrontation, je pense qu’elle va avoir lieu. Encore un ou deux attentats et elle adviendra. Il nous appartient donc d’anticiper et de bloquer tous ces groupes qui voudraient, à un moment ou à un autre, déclencher des affrontements intercommunautaires.“[14]

Es braucht deshalb Wachsamkeit, Standhaftigkeit und vor allem einen kühlen Kopf, um die von den Jihadisten ausgehende Herausforderung unserer freien, offenen und toleranten Gesellschaft ins Leere laufen zu lassen. In der Pflicht sind dabei die Medien und Politiker, die jedes (vermeintliche) Attentat reflexartig dem IS zuschreiben – häufig ohne konkreten Hinweis auf dessen tatsächliche Beteiligung. Wie zum Beispiel im eingangs erwähnten Leitartikel: Noch fehlen zur Stunde Bekennerschreiben und Details über die Hintergründe der Tat, doch weisen alle Anzeichen in Richtung eines dschihadistisch motivierten Attentats, das in eine länger werdende Reihe von Vorfällen eingereiht werden kann: (…).“[15] Diese weitum automatisierte Reaktion überhöht Einfluss und Schlagkraft des IS und ist Wasser auf seine Propagandamühlen. Denn der IS selbst wartet nur darauf, in einem solchen Fall die Urheberschaft für sich zu beanspruchen, schrieb kürzlich Max Bearak in der Washington Post. Die meisten Angriffe würden nämlich von Menschen verübt, welche nie in direktem Kontakt zum IS gestanden hätten und welche die Terrormiliz folglich selbst nicht kenne.[16]

Ein illustratives Beispiel ist der Anschlag auf einen Nachtclub in Orlando am 12. Juni 2016. Obwohl Beamte des Department of Homeland Security eine Verbindung zwischen dem Täter Omar Mateen und dem IS verneinten, erklärten viele Medien und Politiker, dass der Todesschütze im Auftrag der Terrormiliz gehandelt habe. Darauf übernahm der IS die Verantwortung, obwohl, er Mateen offenbar nicht kannte und es äusserst zweifelhaft ist, ob seine Ideologie und Propaganda massgebliche Ursachen für die Tat waren. Denn Mateen „pries sowohl den IS als auch dessen Intimfeind, den Al-Kaida-Ableger Dschabhat al-Nusra, und darüber hinaus den gemeinsamen Feind beider Organisationen, die schiitische Hisbollah. Dahinter steht kein geschlossenes Weltbild, das ist halb verdautes Nachrichtengewitter.“[17]

Die Taten von echten (und vermeintlichen) IS Anhängern sollen in den westlichen Gesellschaften Ressentiments gegen Muslime schüren und zu deren Ausgrenzung führen. (Französisch Polizisten setzen an einem Strand das Burkini Verbot durch) / Quelle: The Independent

Die Taten von echten (und vermeintlichen) IS Anhängern sollen in den westlichen Gesellschaften Ressentiments gegen Muslime schüren und zu deren Ausgrenzung führen. (Französisch Polizisten setzen an einem Strand das Burkini Verbot durch) / Quelle: The Independent

Auch im Fall des Mordes an Mitarbeitern einer gemeinnützigen Einrichtung am 2. Dezember 2015 in San Bernardino, Kalifornien, scheint es, als ob der IS ohne Beteiligung am Attentat die Verantwortung übernommen hat. Syed Farook und Tashfeen Malik töteten 14 Menschen mit automatischen Waffen und platzierten eine selbstgebaute Bombe, die glücklicherweise aber nicht explodierte. Die beiden Täter wurden anschliessend bei einem Feuergefecht mit der Polizei getötet. Obwohl der IS auch in diesem Fall die beiden Attentäter als „Soldaten des Kalifats“ pries und die Presse über einen angeblichen Treueeid der beiden zum IS berichtete, verneint das FBI, dass es diesen jemals gab. Eine Verbindung scheint zweifelhaft.[18]

Medien, Politiker und vermeintliche Terrorismusexperten sollten daher unbedingt genauer hinschauen, bevor sie eine Bluttat vorschnell dem selbsternannten Kalifat zuschreiben. Denn damit leistet man der Propagandamessage des IS Vorschub, er könne praktisch überall und jederzeit „Ungläubige“ töten. Zudem birgt die Einordnung der Taten, verbunden mit der exzessiven medialen Präsenz, das Risiko, weitere potentielle Täter anzustacheln.

Letztlich stehen wir aber alle in der Verantwortung. Damit wir nicht in die Falle tappen, welche uns die Terroristen stellen, müssen wir das simplistische, apokalyptische Narrativ eines zivilisatorischen Konflikts zwischen dem Westen und dem Islam zurückzuweisen. Über 30 der 84 Todesopfer des Anschlags in Nizza waren Muslime. Das erste Todesopfer, das vom Attentäter gezielt überfahren wurde, war eine verschleierte Muslima namens Fatima.

Dr. Adrian Hänni ist Postdoktorand an der Universität Leiden und Dozent an der Fernuniversität Schweiz. Er lebt in Washington D.C. Lukas Hegi ist Chefredaktor des VSN Bulletins.

[1] Robin Blanck, Sinnlos, feige, Schaffhauser Nachrichten, 16. Juli 2016.

[2] Ebd.

[3] Hannah Allam, Peter Kassig’s Friends Hope Unusual Islamic State Video Means He Fought His Beheading, McClatchy DC, 16. November 2016, http://www.mcclatchydc.com/news/nation-world/world/article24776362.html.

[4] William McCants, The ISIS Apocalypse: The History, Strategy and Doomsday Vision of the Islamic State (New York: St Martin’twere Press, 2015), S. 104.

[5] Remaining and Expanding, Dabiq, Nr. 5, 21. November 2014, S. 33.

[6] Mariam Karouny, Apocalyptic Prophecies Drive Both Sides to Syrian Battle for End of Time, Reuters, 1. April 2014, http://www.reuters.com/article/us-syria-crisis-prophecy-insight-idUSBREA3013420140401.

[7] McCants, The ISIS-Apocalypse, S. 10.

[8] z.B. Dabiq, No. 7: From Hypocrisy to Apostasy: The Extinction of the Grayzone, 12. Februar 2015.

[9] Kevin Knodell, The Islamic State’s Assault on the ‘Gray Zone’, War is Boring, 28. Juli 2016, https://warisboring.com/the-islamic-states-assault-on-the-gray-zone-2ba6bbcb24fb#.gmtsxv6x6.

[10] Schaffhauser Nachrichten, 16. Juli 2016.

[11] Ralf Pauli, Jede Woche ein Angriff, Tageszeitung, 8. Mai 2016, https://www.taz.de/!5299037/.

[12] Angriff auf das Grundgesetz: AfD-Vize Gauland will Asylrecht für Muslime aussetzen, Spiegel online, 27. Juli 2016, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-alexander-gauland-will-asylrecht-fuer-muslime-aussetzen-a-1104990.html.

[13] Yasser Louati, After Nice: Grief and Disgrace, Middle East Eye, 29. Juli 2016, http://www.middleeasteye.net/essays/after-nice-grief-and-disgrace-8202318.

[14] Commission de la défense nationale et des forces armées, 10. Mai 2016, http://www.assemblee-nationale.fr/14/cr-cdef/15-16/c1516047.asp.

[15] Schaffhauser Nachrichten, 16. Juli 2016.

[16] Max Bearak, When ISIS claims terrorist attacks, it’twere worth reading closely, Washington Post, 26. Juli 2016, https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2016/07/26/when-isis-claims-terrorist-attacks-its-worth-reading-closely.

[17] Yassin Musharbash, Aber er hat doch IS gesagt!, Die Zeit, 14. Juni 2016, http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-06/orlando-attentaeter-islamischer-staat-medien/komplettansicht.

[18] Shane Harris, Was the San Bernardino Massacre Really ISIS-Inspired?, The Daily Beast, 16. Dezember 2015, http://www.thedailybeast.com/articles/2015/12/16/was-the-san-bernardino-massacre-really-isis-inspired-the-fbi-chief-just-called-that-into-question.html.

 

Die Schweiz unter Partnern bei der NATO

Oberstlt i Gst Niels O. Büchi, Partner National Military Representative (PNMR) NATO/ACO

Seit 1996 ist die Schweiz im Rahmen der PfP (Partnerschaft für den Frieden) mit der Schweizer Mission bei der NATO (North Atlantic Treaty Organization) in Brüssel vertreten. Seite an Seite setzen sich Diplomaten des EDA und Offiziere des VBS für die Anerkennung der Beiträge der neutralen Schweiz, zur Sicherheit in Europa ein. Das zwanzigjährige Schweizer Engagement  stellt sich erfolgreich dem sich im Wandel befindenden und von neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen geprägten Umfeld der NATO.

 

Der euroatlantische Raum im Wandel

Kurz vor dem NATO-Gipfel anfangs Juli in Warschau steht Europa vor einer Vielzahl sicherheitspolitischer Herausforderungen. Die Gleichzeitigkeit der Krisen, die Interferenz der Spannungen und das einhergehende Potential zur gegenseitigen Eskalation führen zu einer brisanten Lage für die europäischen Kooperationen und ihre Mitglieder- und Partnerstaaten.

Die Annexion der Krim durch Russland, der separatistische Konflikt in der Ukraine und sichtbare Zeichen der Wiederaufrüstung zeugen von höheren Risiken an der östlichen und südöstlichen Peripherie der NATO. Failing States und kriegszerstrittene Regionen im Mittleren Osten und in Afrika führen zu humanitären Katastrophen und Flüchtlingsbewegungen nach Europa, die die EU überfordern. Der aus tief eingenisteten Netzen in unserer Gesellschaft eskalierte Terror bedrückt das Leben in den Hauptstädten Europas. Neue Formen der Kriegsführung im Cyber-Bereich bedrohen unsere hochtechnologisierte esellschaft.

Die internationalen Instrumente der Krisenbewältigung sind vor grosse Herausforderungen gestellt. Europas Uneinigkeit in der Flüchtlingsfrage, nationalistische Reaktionen wie Rechtsrutsche bei Wahlen und, als markantes Beispiel, die politische Diskussion um den Brexit, in Kombination mit einer nicht zu bewältigenden Wirtschaftsflaute, wirken auf die Gesamtlage des Kontinentes destabilisierend.

Die NATO hat seit 2014 die bereits bei ihrem letzten Gipfel in Wales begonnene Stärkung ihrer Verteidigungsbereitschaft konsequent weitergeführt und nach zwei Jahrzeiten der wohlwollenden Ausrichtung auf Kooperation ihre Kern-aufgabe, die kollektive Verteidigung, wieder prioritär angesiedelt. Die Beziehung zu Russland muss neu definiert werden, da die östliche Macht wieder als Gegner wahrgenommen wird; Wege zum Dialog mit Moskau sollen jedoch nicht aufgegeben werden.

Zur Stärkung der Sicherheit im euro-atlantischen Raum wird auch die Förderung der Stabilität der südlichen Partner in ihrer konfliktzerstrittenen Umgebung von der NATO als wichtige Aufgabe akzentuierter umgesetzt. Die Politik der offenen Türen wird mit der prognostizierten Aufnahme von Montenegro im Frühjahr 2017 zwar fortgesetzt, im Falle von Georgien und weiteren Staaten jedoch klar verzögert.

Die NATO muss das Verhältnis zu Russland neu definieren und unbedingt den die Möglichkeit zur Kommunikation offenhalten. (Bild Fahrzeuge der US Army Europe bei der Operation Dragoon Ride) / Bild: US Army Europe/Flickr

Die NATO muss das Verhältnis zu Russland neu definieren und unbedingt den die Möglichkeit zur Kommunikation offenhalten. (Bild Fahrzeuge der US Army Europe bei der Operation Dragoon Ride) / Bild: US Army Europe/Flickr

 

Politisch-/militärischer Schulterschluss

Die Ständige Mission der Schweiz bei der NATO besteht seit 1996 und spielt eine wichtige Rolle für die Förderung der Schweizer Ziele gegenüber der Organisation. Sie setzt sich für eine positive Entwicklung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der NATO im Rahmen der PfP ein. Die Mission verfolgt die politisch-militärischen Entwicklungen innerhalb der Allianz. Basierend auf den politischen Vorgaben und den Kooperationszielen mit der NATO vertritt die Mission die Schweiz in einzelnen Komitees, wie zum Beispiel in jenem zur Beaufsichtigung der internationalen friedensfördernden Mission „Kosovo Force“ (KFOR), wo ein Schweizer Friedensförderungs-Kontingent „Swisscoy“ seit dem Beginn des Einsatzes 1999 eingegliedert ist. Zusätzlich fördert die Mission die innerhalb der NATO für die Schweiz relevanten aussenpolitischen Initiativen. Durch ihre Berichterstattung an das EDA und das VBS leistet die Mission einen Beitrag zur Gestaltung und Formulierung der internationalen Sicherheitspolitik.

Botschafter Christian Meuwly ist Missionschef der Schweizer Mission bei der NATO und vertritt gleichzeitig die Schweiz gegenüber dem Königreich Belgien. Das Team bei der Mission setzt sich aus versetzbarem Personal des EDA und des VBS zusammen und wird durch einen lokalen Supportstaff unterstützt.

Die Struktur der Schweizer Mission ist vergleichbar mit den Vertretungen der anderen Länder, wenn auch personell viel bescheidener aufgestellt.

Die Militärische Vertretung besteht aus dem militärischen Repräsentanten (Mil Rep), aktuell Brigadier Heinz Huber, seinem Stellvertreter (Dept Mil Rep), Oberst Markus Widmer, dem Führungsgehilfen, Stabsadjutant Christian Wiesli, sowie je einem nationalen Vertreter am Allied Command Operations (ACO), Oberstlt i Gst Niels Büchi, und Allied Command Transformation (ACT), Oberst i Gst Marco Bezzola. Zusätzlich nehmen der Mil Rep, sein Stellvertreter und der Vertreter beim ACO noch Aufgaben gegenüber der ESDP (European Security and Defence Policy) wahr. Verstärkt wird das Team durch den zivilen Vertreter der armasuisse, welcher seine Aufgaben ebenfalls gegenüber der NATO und der ESDP erfüllt.

Der Schulterschluss zwischen der politischen und militärischen Seite der Mission ist Garant für ein gesamtheitliches Arbeiten im Verbund zugunsten der Schweizer Sicherheitspolitik.

Oberstlt i Gst N. Büchi, PNMR überbringt dem neuen Oberbefehlshaber der NATO und der US-Truppen in Europa, General C. Scaparrotti, SACEUR die besten Wünsche anlässlich des Change of Command. / Bild: NATO

Oberstlt i Gst N. Büchi, PNMR überbringt dem neuen Oberbefehlshaber der NATO und der US-Truppen in Europa, General C. Scaparrotti, SACEUR die besten Wünsche anlässlich des Change of Command. / Bild: NATO

 

Die Zukunft von NATO-Partnerschaften

Die PfP, die 1994, basierend auf dem NACC (North Atlantic Cooperation Council) der NATO, ins Leben gerufen wurde, diente in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens in erster Linie der Stabilisierung der ehemaligen WAPA-Staaten (Warschauer-Pakt) und der Konfliktparteien des ehemaligen Jugoslawiens. Der Kumulationspunkt der Integration dieser Staaten ist jedoch mit dem Beitritt von zwölf ehemaligen PfP-Mitgliedern in die NATO und mit der Rückkehr des PfP-Mitgliedes Russlands zur konsequenten Machtpolitik erreicht.

Bereits 1997 wurde mit dem EAPC (Euro-Atlantic Partnership Council), der Nachfolgeorganisation des NACC, eine Institution gegründet, welche die PfP-Mitglieder mit den NATO-Mitgliederstaaten zusammenbringt. Der NATO Mediterranean Dialogue, die ICI (Istanbul Cooperation Initiative) und die Partners across the Globe erweitern die NATO-Partnerschaften geografisch in den südlichen Mittelmeerraum, in die Golfregion und nach Asien sowie in den pazifischen Raum. Zudem gewinnen die Partnerschaften der NATO mit internationalen und regionalen Organisationen wie der UNO, der EU (European Union), der OSCE (Organization for Security and Co-operation in Europe) und dem ICRC (International Committee of the Red Cross) zunehmend an Relevanz.

Der gesamtheitliche Ansatz, unter Einbezug möglichst vieler Partner, widerspiegelt sich klar im sicherheitsstrategischen Denken und Handeln der NATO. Dieser Trend, von einer euro-atlantischen Allianz zu einem Weltbündnis, wird sich auch am NATO-Gipfel vom kommenden Juli in Warschau angesichts der zunehmenden Gefahr bewaffneter Angriffe gegen NATO-Mitgliederstaaten und des erhöhten Terrorrisikos bestätigen.

Die Beteiligung der Schweiz an der PfP dient unter anderem der Vorbereitung auf UNO-, NATO- und EU-geführte Friedensmissionen. (Bild: LMT im Kosovo) / Bild: NATO

Die Beteiligung der Schweiz an der PfP dient unter anderem der Vorbereitung auf UNO-, NATO- und EU-geführte Friedensmissionen. (Bild: LMT im Kosovo) / Bild: NATO

Die PfP ist im sicherheitspolitischen Umfeld der NATO, wie es sich 2016 präsentiert, ein bedeutsames, aber aufgrund ihres Entstehungskonzepts anfangs der 1990er Jahre nicht mehr zukunftsweisendes Partnerschaftsformat. Vereinfacht dargestellt können die PfP-Mitgliederstaaten 2016 in zwei Kategorien unterteilt werden: In die Staaten, die aufgrund ihrer sicherheitspolitischen Gegebenheiten NATO-Mitglied werden könnten, aber politisch nicht wollen und somit über eine sicherheitspolitische Handlungsfreiheit verfügen, und in jene Staaten, die wollen, aber nicht können und deren Handlungsfreiheit sehr stark eingeschränkt ist. Innerhalb der beiden Gruppen präsentieren sich die nationalen Interessen und Gegebenheiten der Staaten jedoch sehr unterschiedlich. Während das Handeln der ersten Gruppe hauptsächlich von neutralitätspolitischen und allianzfreien Überlegungen geprägt ist, sind in der zweiten Gruppe vor allem sowjetrussische Erblasten und/oder geopolitische Gegebenheiten politikbestimmend. Demokratische Staatsstrukturen, sicherheitspolitische Konstellationen und der Zustand der Armee attestieren den Staaten der ersten Gruppe, im Vergleich zur zweiten, zusätzlich eine erhöhte militärische Interoperabilität. Dies ist nicht per se mit einer NATO-Integration gleichzusetzen, sondern hängt vielmehr mit einer aktuellen Beurteilung der Sicherheitslage und einer angepassten und modernen Streitkräfteentwicklung zusammen.

Die Interessen der PfP-Staaten präsentieren sich nach über 20 Jahren aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen Lage im euro-atlantischen Raum als heterogener denn je. Die Umsetzung allgemein gültiger Partnerschaftskonzepte und Agenden gehört der Vergangenheit an.

Politische Veränderungen zwingen die NATO und mit ihr die Partnership for Peace zur Veränderung findet der Autor. (Bild: NATO HQ in Brüssel) / Bild: NATO

Politische Veränderungen zwingen die NATO und mit ihr die Partnership for Peace zur Veränderung findet der Autor. (Bild: NATO HQ in Brüssel) / Bild: NATO

Die NATO beabsichtigt vermehrt, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Partner grössere Aufmerksamkeit zu schenken und ihren individuellen Gegebenheiten stärker Rechnung zu tragen. Ein Paradigmawechsel in den Partnerschaftsbeziehungen der NATO, von forderungs- zu förderungszentrierter Partnerschaftspolitik? Nein, im Zentrum steht die auf Realpolitik basierende Geopolitik der NATO; die Domination des euro-atlantischen Raums und dessen Peripherie zur Wahrung der nationalen Interessen der Mitgliederstaaten ist nur ein Beispiel dafür. In den geografischen Räumen, wo es der Sache dient, werden die Partnerschaften gefestigt. Es ist daher ein verstärkter Fokus auf die Kooperationen der Staaten des Mediterranean Dialogue, der ICI und der Partners across the Globe zu erkennen. Dass Länder wie Australien, Japan oder auch Jordanien nicht mit den gleichen Konzepten wie im Falle der Integration der Staaten von Exjugoslawien oder der ehemaligen Sowjetrepubliken an Bord geholt werden können, liegt politisch auf der Hand.

Die PfP ist für die Schweizer Sicherheitspolitik eine 20-jährige Erfolgsgeschichte. Dank einer massgeschneiderten Beteiligung konnte sich die Schweiz in ihrem Interesse gezielt in die internationale diplomatische und militärische Friedensförderung einbringen. Damit die Präsenz der Schweizer Interessen auch in Zukunft der internationalen Sicherheitspolitik erhalten bleibt, muss sie sich mit flexiblen Lösungsansätzen und angepassten Konzepten den veränderten Gegebenheiten stellen.

Buchbesprechung: Ghost Fleet-A Novel of the Next World War

von Maj Lukas Hegi, Vorstand VSN

Literarische Fiktion ist eine mächtige Quelle für die Phantasie. Warum sie also nicht auch für mentales Wargaming benutzen, haben sich Peter W. Singer und August Cole gedacht. Herausgekommen ist ein Kriegsszenario mit zwei Grossmächten, die um die Vorherrschaft im pazifischen Ozean ringen, und das die technischen Möglichkeiten künftige militärischer Auseinandersetzungen beleuchtet.

Cover Ghost FleetPeter W. Singer dürfte den meisten bislang eher als erfolgreicher Sachbuchautor und Berater bekannt sein, denn als Verfasser eines Romans. Singer verstand es bisher ausgezeichnet Themen vorausschauend aufzugreifen, welche von enormer Bedeutung für die Gestaltung der internationalen Beziehungen waren, sind und sein werden. Sein Werk über die Private Military and Security Companies (PMSC) (Corporate Warriors-The Rise of the Privatized Military Industry, Cornell University Press, 2003) und seine darin entwickelte Typologie sind nach wie vor massgebend. Ebenso seine Bücher über die Robotik (Wired for War, Penguin Press, 2009) und Cyberwarfare (mit A. Friedman, Cybersecurity and Cyberwarfare, Oxford University Press, 2014). Singer, der derzeit als Stratege an der New America Foundation tätig ist, hat sich für den Roman mit einem Journalisten zusammengetan, der sich im Bereich der Rüstungsindustrie sehr gut auskennt. August Cole recherchierte und schrieb für das Wall Street Journal und ist für den Think Tank Atlantic Council tätig.

Die Story

In naher Zukunft explodiert nach einem Terroranschlag im Nahen Osten der Ölpreis und stürzt die globale Wirtschaft in eine Krise. Besonders davon betroffen sind die Vereinigten Staaten. In China beendet das Militär die kommunistische Herrschaft und übernimmt die Macht zusammen mit Wirtschaftsführern. Zusammen bilden sie das nationalistisch-kapitalistisch orientierte „Direktorium“. Dieses sieht die Zeit gekommen, seine Ansprüche im Pazifik gegenüber den USA durchzusetzen und greift zusammen mit einem opportunistischen Russland die USA unvermittelt und in allen Dimensionen an. Mittels eines Lasers in einer umgebauten Raumstation schalten die Chinesen als erstes die Satelliten der USA aus. Ballistische Lenkwaffen zerschmettern die amerikanischen Schiffe im Pazifik. Daraufhin werden die hawaiianischen Inseln von chinesischen Truppen, die sich in Frachtschiffen versteckt haben und die in Pearl Harbor vor Anker liegen, im Sturm erobert, mit der Unterstützung von Schwärmen automatisierter Drohnen. Es sind am Tag des Angriffs aber nicht allein das Überraschungsmoment und die überlegene Waffentechnologie in den Händen der Chinesen, welche ihnen einen schnellen (vorübergehenden) Sieg ermöglichen. Vielmehr sind die USA und vor allem ihre Rüstungsfirmen seit Jahren systematisch unterwandert und ausspioniert worden. Chinesische Unternehmer haben Firmen aufgekauft und Teile für US-Waffensysteme produziert, um sie am Tag des Angriffs auf Knopfdruck (sog. „kill switch“) unbrauchbar machen zu können. So erweisen sich die zum Beispiel die F-35 Kampfjets als wirkungslos. Die manipulierte Bordelektronik macht Stealth-Technologie nutzlos, indem sie die chinesischen Lenkwaffen den Weg ins Ziel führt. Doch der Tag des Angriffs kennt auch Helden. Marine Corps Major Doyle zum Beispiel, die den Widerstand organisiert und einen Kleinkrieg gegen die Invasoren zu führen beginnt. Captain Simmons der sein Littoral Combat Ship unter Beschuss aus dem Hafen fährt und in die USA zurückkehrt. Gelähmt und handlungsunfähig und ohne Verbündete – die NATO hat sich aufgelöst und die ehemaligen Bündnispartner halten unter dem Druck des „Direktoriums“ still – müssen die Amerikaner erst ihre Rüstungsindustrie wieder hochfahren und massenweise eingemottetes Kriegsgerät wieder brauchbar machen, um den dem Angreifer etwas entgegenzusetzen zu haben. Doch die USA geben nicht auf. Sie bauen rund um die USS Zumwalt, einen Zerstörer neuester Bauart, eine Expeditionsflotte auf, um zurückzuschlagen.

Zugegeben, der Plot erinnert sehr stark an den Pearl Harbor-Narrativ: ein unvorbereitetes und kriegsmüdes Amerika wird hinterrücks angegriffen. Es mobilisiert darauf hin alle Kräfte um zurückzuschlagen. Der Plot ist zugleich auch der schwächste Teil des Buches, weil er den Ausgang so vorhersehbar macht und gewisse Klischees pflegt. Der technische Aspekt und eingebettete Kritik an der amerikanischen Rüstungspolitik machen das Buch jedoch äusserst lesenswert. Singer und Cole Die Autoren sparen hierbei nicht mit Tadel am trägen und verfilzten Verwaltungsapparat der an Rüstungsprojekten festhält, die kaum oder gar nicht die versprochenen Leistungen erreichen, während sie gleichzeitig Kosten und Terminziele bei weitem verfehlen. Das obwohl die Industrie die Komponenten bei immer mehr einzelnen Herstellern einkauft um die eigenen Kosten tief und damit die Gewinnmarge hoch zu halten. Diese zunehmende Auslagerung führt zu einem Kontrollverlust über die eigene Rüstungsindustrie mit den im Buch beschriebenen Gefahren für die nationale Sicherheit.

Zerstörer der Zumwalt-Klasse (DDG-1000) in der Darstellung eines Künstlers. Es spielt eine der Hauptrollen in Ghost Fleet. © Public Domain

Zerstörer der Zumwalt-Klasse (DDG-1000) in der Darstellung eines Künstlers. Es spielt eine der Hauptrollen in Ghost Fleet. © Public Domain

Fazit

Singer und Cole haben mit Ghost Fleet einen temporeichen, spannenden Roman geschrieben, der die Möglichkeiten des literarischen Gedankenspiels auf der Grundlage realer oder in absehbarer Zeit verfügbarer Technologie voll ausschöpft. Statt trockener Materie, wie sie in den unzähligen Reports der Think Tanks vorliegt, schaffen es Singer und Cole eine Simulation ihres Szenarios im Kopf zu erwecken. Und zwar so realistisch, dass man sich manchmal wie die Zuhörer des Hörspiels von H.G. Wells „Krieg der Welten“ 1938 vorkommt, die sich nicht mehr sicher waren, ob sie nun der Fiktion lauschten, oder ob die USA tatsächlich von Ausserirdischen angegriffen werden. Da hilft es, sich die einleitenden Worte der Autoren ins Gedächtnis zu Rufen, dass es sich hierbei um „a work of fiction, not prediction“ handelt. Hoffen wir, dass sie recht behalten werden.

P.W. Singer und A. Cole, Ghost Fleet-A Novel of the Next World War, Boston: Houghton Mifflin Harcourt, 2015, ca. 35.- Franken.

MI6, NATO HQ und Battle of Waterloo – Ein Reisebericht

von Maj Michael Suter und Philipp Hauenstein, Vorstand VSN

Vom 10. bis zum 13. September 2015 fanden die dritten Swiss Intelligence Days (SiD) unter dem Titel „Euro-atlantische Sicherheitspolitik im Kontext der Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik“ statt. Im Zentrum der Tagung stand die dreitägige Studienreise nach Brüssel zur Schweizer Mission bei der EU und der NATO.

Startschuss durch den ehemaligen Chef des MI6

Am ersten Tag genossen wir auf dem Waffenplatz Kloten das Gastrecht des Lehrverbandes Führungsunterstützung 30 (LVb FU 30). Die Vortragsreihe und die Diskussionen zur gegenwärtigen Lage in Europa boten einen interessanten Überblick und Einstieg in die Tagung. Sir John McLeod Scarlett, der ehemalige Chef des MI6, hielt nach der Begrüssung und einer kurzen Einführung durch den Präsidenten Oberstlt i Gst Niels Büchi ein Referat mit dem Titel „The importance of national intelligence services to international security“. Im Rahmen seiner Ausführungen und der Diskussionen mit den Mitgliedern der VSN wurde auf folgende Bereiche eingegangen: die verschiedenen Handlungsfelder der internationalen Sicherheitspolitik, darunter die Herausforderungen in der Flüchtlingsfrage und deren Implikationen für die EU, die Expansionsbestrebungen Russlands im Zuge des Ukraine- und Syrien-Konflikts und Chinas Inselaufschüttungen auf den Spratly-Inseln. Ebenso wurde auf den Gedanken verwiesen, dass aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre immer mehr daraufhin gearbeitet werden muss, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, aber auch das Undenkbare beziehungsweise Unwahrscheinliche zu (be)denken. Darüber hinaus wurde der Geheimhaltung nachrichtendienstlicher Arbeit eine direkte Verbindung zum Erfolg attestiert, und es wurde bestätigt, dass es darauf ankommt, in einem heutigen Nachrichtendienst einen gelungenen Mix zwischen operativen und technischen Fähigkeiten zu finden. Eine weitere Quintessenz des Vortrages lautet, dass, obwohl Europas Nationen heutzutage viel von ihrer Macht beziehungsweise ihren Zuständigkeiten auf verschiedene staatenübergreifende Institutionen verteilt haben, der einzelne Staat nicht unersetzbar geworden ist. Übertragen auf die Gewinnung nachrichtendienstlicher Informationen bedeutet dies, dass weiterhin daran festzuhalten ist, eigene Aufklärungskapazitäten zu besitzen unter der Bedingung, dass für die Gewinnung von Informationen unter dem „Schutzmantel“ der Geheimhaltung ein von der Gesellschaft akzeptiertes Konzept zum Einsatz kommt, ohne den Begriff der Privatsphäre zu ignorieren. Und obwohl dieses schwierig zu finden sein wird, ist es notwendig, diese Basis jetzt zu schaffen, da bei steigender internationaler Verflechtung und Komplexität von Ereignissen, die sich zudem immer schneller abspielen, auch die nachrichtendienstlichen Fähigkeiten Schritt halten können müssen.

 

Die Rolle der OSZE und insbesondere der Schweiz darin

Der Themenbereich zum OSZE-Vorsitz der Schweiz wurde von Dr. Daniel Möckli, politischer Berater des Departementsvorstehers des EDA, moderiert. Das Publikum erhielt dadurch einen Einblick in die Zeit des OSZE-Vorsitzes der Schweiz als doppelt unabhängiges Land (weder EU- noch NATO-Mitglied), inklusive der besonderen Aktivitäten der OSZE-Troika bestehend aus der Schweiz, Serbien und Deutschland. Die Erosion der europäischen Friedensordnung am Beispiel der Entwicklungen in der Ukraine stand im Mittelpunkt, ebenso das sich verschlechternde Verhältnis des Westens zu Russland. Aktiv werden kann die OSZE nur dann, wenn ein gemeinsamer Wille vorhanden ist. Doch sie ist insbesondere dann eine letzte vermittelnde Instanz, wenn NATO und EU weggebrochen sind oder es sich um besonders heikle Themen handelt, wie beispielsweise die Untersuchung zum Abschuss von MH-17 oder die Stärkung des Ukraine–EU-Verhältnisses. Zum Repertoire der OSZE zählen somit nicht mehr nur Verhandlungsprozesse, sondern mittlerweile auch komplexe Friedensoperationen beziehungsweise OSZE-Beobachtermissionen, ähnlich einem Peace-Keeping, inklusive Aufklärungsdrohnen und Satellitenunterstützung.

Roger Köppel – Herausgeber der Weltwoche, Historiker, Dozent und Sicherheitspolitiker

Im Anschluss erfolgte ein Referat des Verlegers und mittlerweile zum Nationalrat gewählten Roger Köppel, unter dem Titel: „Sicherheit und Freiheit – die Säulen der Schweiz“. Köppel präsentierte sich als politischer Quereinsteiger und Herausgeber der „Weltwoche“, sowie auch als Historiker und Dozent im Rahmen eines MBA-Studiengangs an der Universität St. Gallen (HSG). Aus geschichtlicher Perspektive betonte er, dass die bewaffnete Neutralität und 500 Jahre Frieden eine Leistung sind, die man als Beweis für das Funktionieren des Schweizer Modells ansehen kann. Verteidigt wird nicht nur eine spezifische Staatsform, sondern auch eine institutionelle Verwirklichung des Freiheitsgedankens. Freiheit heisst, dass der Bürger beziehungsweise das Volk der Souverän ist. Die Schweiz ist – obwohl klein – nicht unverwundbar. Köppel möchte das Prinzip der Neutralität bewusst als Vorteil verstanden wissen. Er sieht die Verwurzelung in der Bevölkerung als Vorteil der Milizarmee und fürchtet um deren Volksverbundenheit, wenn sich der Personalbestand auf unter 100000 AdA verringern sollte. Köppel möchte sich in der Politik dafür einsetzen, dass die Prioritäten richtig gesetzt werden, beziehungsweise er hinterfragt, ob dies zum jetzigen Zeitpunkt der Fall ist.

Röger Köpper während seinem Vortrag an den SiD. © P.H./VSN

Röger Köpper während seinem Vortrag an den SiD. © P.H./VSN

 

Detaillierter Einblick in die Schweizer Grenzsicherung

Nach einem exzellenten Steh-Lunch, zubereitet von den Küchenchefs des LVb FU 30 in Kloten, folgte am Nachmittag ein Vortrag vom Vertreter des Grenzwachtkorps, Hauptmann Benz. Dieser Vortrag bildete einen Kontrast in Bezug auf die Informationen, die rund um die Flüchtlingsbewegungen im medialen Alltag thematisiert werden. Dem Publikum wurde in Form von vielen Bildern und Erläuterungen geschildert, wie der Alltag der Grenzpolizisten als auch der Zollbeamten aussieht, welche Taktiken von den Schmugglern, Schleppern und Flüchtlingen angewendet werden, welche Schlepperrouten es gibt; aber auch mit welchen Prozessen und Herausforderungen bei einer Kontrolle beziehungsweise dem Feststellen der Identität und beim Durchsuchen man sich widmen muss, und wie die Flucht als kriminelles Geschäft funktioniert. Ebenso konnte mit entsprechendem Zahlenmaterial ein Eindruck von der Grösse der Fluchtbewegungen beziehungsweise der Anzahl der Aufgriffe an den neuralgischen Punkten der Schweizer Grenze vermittelt werden.

 

Lagebeurteilung Balkan 2015

Im Anschluss folgte der Vortrag des MND, dessen Vertreter das Publikum mit auf eine Reise auf den Balkan nahm. Der Redner verstand es, eine grosse Anzahl an Informationen schnell, aber verständlich zum Publikum zu transferieren, damit die Situation der Menschen auf dem Balkan – vor allem in Bosnien und Herzegowina – verständlich wurde. Von fehlenden Investitionen über Diaspora-Finanzierung, hoher Arbeitslosigkeit (Analphabeten-Rate 57%), fehlenden Perspektiven für die Menschen (550 Euro braucht man zum Leben, 350 Euro verdient ein Polizist im Monat), Kriminalität, unklaren Besitzverhältnissen, Drogen, Waffen bis hin zu Korruption wurden nahezu alle Einflusssphären aufgezeigt. Schliesslich ging der Referent auf das Wirken des auf dem Balkan eingesetzten Swisscoy-Kontingents ein. Nach diesem Überblick über die Faktenlage leitete der Redner über zu einer detaillierten Veranschaulichung der Balkan-Route aus Sicht der Flüchtlinge und Schlepper. Hier wurden Insbesondere deren Funktionieren sowie die weiteren Entwicklungen anhand prognostizierter politischer Ereignisse – etwa einer massiven Abwanderung aus dem Kosovo, wenn die Visa-Freiheit eingeführt wird – dargestellt. Der Balkan, insbesondere Bosnien und der Kosovo, ist ein Pulverfass, wo bereits kleine Ereignisse ausreichen, um grössere Konflikte zu entzünden.

Diskussion mit den Referenten

Am Ende der Vortragsreihe stand eine Paneldiskussion, bei der sich die Redner den Fragen aus dem Publikum stellten. Diese betrafen die Machtverschiebungen auf dem Globus, und das Problem, wie die Schweiz sich in diesem Geflecht positionieren sollte. Folgende Handlungsempfehlungen wurden in der allgemeinen Diskussion erörtert:

  • Für die Schweiz bedeutet das Prinzip der Neutralität, dass weiterhin Eigenständigkeit demonstriert werden soll und sich das Land höchstens im Zuge der Guten Dienste an Schutzmandaten beteiligen kann. In multinationalen Operationen nicht involviert zu sein allein, schützt indessen nicht.
  • Die Weiterentwicklung der Schweizer Armee muss dahingehend erfolgen, dass der Preis den ein Akteur zahlen müsste, um die Schweiz in allen sich vorstellbaren Dimensionen, auch Cyber, anzugreifen, möglichst hoch ist (Dissuasion). Die Ukraine hatte diese Voraussetzung nicht.

Bezogen auf den momentanen Konflikt in der Ostukraine wurde darauf hingewiesen, dass sich keine schnelle Lösung abzeichnet. Es wird empfohlen auf eine Phase der Entspannung zu warten, die der Diplomatie neue Chancen eröffnen kann. Dass sich Russland in eine bestimmte institutionelle Lösung integrieren lässt, sei es bezogen auf die Ukraine oder Syrien, wird als unwahrscheinlich gesehen. Russland will als Grossmacht wahrgenommen werden. Putins Handeln ist aggressiv und schwierig vorherzusehen. Europa ist mit den geopolitischen Krisen wie dem Syrien-Konflikt, der Flüchtlingsthematik an seinen Aussengrenzen sowie der hegemonialen Aussenpolitik Russlands tendenziell überfordert. Verschiedentlich ist auf nationaler Ebene eine Rückkehr zur klassischen Realpolitik zu erkennen.

Der erste Teil der SiD, mit einer geballten Ladung von transferiertem und diskutiertem Fachwissen rund um das Thema Sicherheit und die neuesten Entwicklungen an Europas Aussengrenzen, schloss um 16 Uhr.

Podiumsdiskussion (von links) mit Dr. Daniel Möckli, Roger Köppel und Sir John McLeod Scarlett. © P.H./VSN

Podiumsdiskussion (von links) mit Dr. Daniel Möckli, Roger Köppel und Sir John McLeod Scarlett. © P.H./VSN

Teil 2 der SID in Brüssel beginnt

Elf Mitglieder starteten ab diesem Zeitpunkt zum zweiten Teil der SiD 2015 mit dem Transfer nach Brüssel. Zunächst wurde eine offizierswürdige Unterkunft im Herzen der Stadt bezogen. Nach einer kurzen Quality Time wurden die Teilnehmer in eine erste Hauptsehenswürdigkeit Brüssels geführt: die überdachte Einkaufspassage Galeries Royales Saint Hubert. Trotz dem reichhaltigen Programm am Vor- und Nachmittag umfasste das dortige Abendessen im Restaurant Ogenblik noch einen besonderen historischen Beitrag. Der Exkursionsteilnehmer Felix Stoll, welcher gleichzeitig Mitglied der Finnisch-schweizerischen Offiziersvereinigung FSOV ist, erzählte den VSN-Mitgliedern mehr über die Rolle von Generalleutnant Karl Lennard Oesch (der familiäre Wurzeln im schweizerischen Schwarzenegg bei Thun hat) während des Zweiten Weltkriegs. Im Stab des finnischen Generals Mannerheim fungierte Oesch im Winterkrieg 1939-1940 als ein grosser Heerführer, dessen Leistungen im Fortsetzungskrieg 1941-1944 von entscheidender Bedeutung waren. Als VSN möchten wir daher bereits jetzt schon auf das dazugehörige Buchprojekt zu General Oesch aufmerksam machen, welches zurzeit in Ausführung begriffen ist.

Diplomatischer Auftakt: Die Schweiz und die EU

Der Freitag, 11. September, startete mit einem Besuch in der Schweizer Mission bei der EU. Der dortige Vertreter, Minister Josef Renggli, orientierte die Teilnehmer über die derzeitigen Herausforderungen der Schweizer Aussenpolitik im Zusammenhang mit der EU mit Blick auf die bilateralen Verträge und die komplexe Situation die derzeit in Bezug auf den Verhandlungspunkt Personenfreizügigkeit herrscht. Im Anschluss zeigte der Vertreter der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA) die Möglichkeiten auf, welche die Agentur den Mitgliedsstaaten bei der gemeinsamen Beschaffung bietet. Die 120 Mitarbeiter der EVA sind verbunden mit rund 2500 Experten, die auf Anfrage bei einem Projekt eines Mitgliedsstaates versuchen, Doppelspurigkeiten zu vermeiden, Synergien zu finden, das entsprechende Vertragswerk zu gestalten und so mit gezielten gemeinschaftlichen Investitionen die Verteidigungskapazitäten zu erhöhen. Ziel soll dabei sein, Fehler aus vergangenen Beschaffungsprojekten zu vermeiden. Ebenfalls soll eine gewisse Spezialisierung der verschiedenen Mitgliedsstaaten im Rüstungsbereich erreicht werden.

Der VSN-Ptäsident instruiert die Teilnehmer im Salon in der Schweizer Mission bei der EU. © P.H./VSN

Der VSN-Ptäsident instruiert die Teilnehmer im Salon in der Schweizer Mission bei der EU. © P.H./VSN

Die NATO – Ein Blick hinter die Kulissen

Am Mittag folgten dann der Besuch bei der NATO in deren Hauptquartier in Brüssel und ein Vortrag des deutschen Oberstleutnants i. G. Viertel über die Grundlagen multinationaler Intelligence. Zunächst wurde dabei die Struktur der NATO beleuchtet und dann der Bereich der Produktion und der Verbreitung von nachrichtendienstlichem Wissen innerhalb des NATO-Apparats aufgezeigt. Zum einen haben die Vertreter jeden Tag mit den nachrichtendienstlichen Informationen zu tun, die sie aus den eigenen Reihen erhalten. Parallel können Sie aber auch auf die gemeinschaftlich geteilten Informationen bei der NATO zurückgreifen, die die jeweiligen Mitgliedsstaaten freiwillig allen NATO-Staaten zur Verfügung stellen. Parallel zu den tagtäglichen Intelligence-Prozessen wurde ebenso der strategisch langfristige Produktionsprozess in Form des auf zehn Jahre in die Zukunft projizierten NATO Strategic Intelligence Estimate als auch das auf zwei Jahre in die Zukunft ausgerichtete Joint Threat Assessment thematisiert. Dabei wurde ersichtlich, wie im NATO-Alltag der Analysten und Strategen um Beachtung und die richtige Gewichtung der jeweiligen Informationen gekämpft wird. Ebenso wurden die Grenzen der Informationsbeschaffung aufgezeigt, zum einen im Angesicht des sogenannten „Hybrid Threat“ und zum anderen aufgrund der Tatsache, dass die Mitgliedsstaaten verschiedene Datenaustauschsysteme nutzen und Information unterschiedliche Wege und Zeiten in Anspruch nimmt bis sie im jeweiligen System angekommen ist.

Zu Gast am Arbeitsplatz des VSN-Präsidenten

In der ständigen Vertretung der Schweiz bei der NATO im Rahmen von PfP führte Brigadier Heinz Huber in die verschiedenen Aufgabengebiete der ständigen Schweizer Mission bei der NATO ein. Ebenso präsentierte Br Huber eine Übersicht über das militärische Engagement der Schweiz im Ausland. Derzeit befinden sich 281 Schweizer Soldaten im Auslandseinsatz, teilweise in Wahrnehmung von Spezialfunktionen. In erster Linie geht es mit der Präsenz bei der NATO um Faktenübermittlung, einen Rückgriff auf Informationen aus dem NATO-Nukleus und dem Funktionieren als Schnittstelle zwischen der operativen Führung in der Schweiz und der militärstrategischen Führung der NATO. Es wurde den Teilnehmern insbesondere klar, dass es viele verschiedene Wege gibt, um an Informationen zu kommen oder diese auszutauschen. Der direkte Kontakt beziehungsweise gerade das persönliche Gespräch zu den dort ansässigen militärischen Vertretern auf verschiedenen Anlässen kann dazu genutzt werden, um sich effizient im Geflecht der NATO zu vernetzen. Genau in diesem Bereich kann die Schweiz von ihrem neutralen Status profitieren und damit durch proaktive Beobachtung Empfehlungen beisteuern, die nicht zuletzt auch für die Weiterentwicklung der Armee (WEA) von Nutzen sein könnten, wie beispielsweise die Annäherung an eine gewisse Stufe der Interoperabilität.

Am Abend wurde die VSN-Delegation zum offiziellen Präsidentendinner geladen. Kulinarische und kameradschaftliche Highlights, gepaart mit interessanten Diskussionen, prägten den geselligen Abend im Zuhause des Präsidenten.

 

Kriegsgerät und Geschichte

Am Samstag, 12. September begann der Tag mit einem Besuch des Royal Museum of the Armed Forces and Military History. Begleitet von einem Museumsführer konnte dabei eine Vielzahl von Kriegsgeräten aus der Nähe betrachtet als auch die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges nachvollzogen werden. Die Ausstellung ist dabei vor allem aufgrund ihrer Grösse zu empfehlen. In den sehr grossen Hallen sind dabei neben Kleinfahrzeugen, Panzern und Helikoptern sogar ganze Kampf- und Transportflugzeuge, sowie frühe Passagierjets zu sehen. Am Mittag fand sich die Gruppe in der Brasserie du Lombard zum Genuss einer traditionellen belgischen Feinschmeckerkost ein: Muscheln in verschiedenem Sud und dazu Pommes frites, im Volksmund „Moules et frites“ genannt. Nach einem Stadtrundgang im Zentrum von Brüssel am Nachmittag, liess die Gruppe den Tag bei einem gemütlichen Abendessen im Restaurant Chez Vincent ausklingen. Der VSN-Vizepräsident Joos Mutzner überreichte bei dieser Gelegenheit dem Präsidenten Niels Büchi ein Geschenk der Teilnehmer als Dank für die Organisation der SiD und die Gastfreundschaft in Brüssel.

Die Kanonenausstellung zum 1. Weltkrieg im Royal Museum of the Armed Forces and Military History. © P.H./VSN

Die Kanonenausstellung zum 1. Weltkrieg im Royal Museum of the Armed Forces and Military History. © P.H./VSN

 

Schlachtenbummel nach Waterloo

Am Sonntag, 13. September, begaben sich die Teilnehmer auf die Spuren Napoleons und zu einer Exkursion nach Waterloo. Im dortigen Museum hatte man die Gelegenheit auf interaktive Weise die Geschichte rund um die Französische Revolution und die Machtergreifung Napoleons zu erfahren. Das erst vor kurzem eröffnete Besucherzentrum beherbergt eine grosse Anzahl an Relikten aus der Zeit der napoleonischen Herrschaft sowie den dort eingesetzten Armeeverbänden und bietet in mehreren Sprachen Zugang zur Geschichte. Auf einem aufgeschütteten Aussichtshügel neben dem Museum kann das in der Ausstellung gewonnene Schlachtenwissen dann mit der Rundumsicht auf die historische Landschaft (Ackerland und Wiesen) in Gedanken verbunden werden.

Der Aussichtshügel des Geländes von Waterloo. © P.H./VSN

Der Aussichtshügel des Geländes von Waterloo. © P.H./VSN

Um 13 Uhr begann dann der Rücktransfer von Waterloo via Brüssel nach Zürich und pünktlich um 16 Uhr hatten die Exkursionsteilnehmer wieder Schweizer Boden unter den Füssen. Der Präsident verabschiedete die Teilnehmer um 16 Uhr 30 und es endeten die SiD 2015.

China und die Spratley Inseln – Ein Überblick

von Philipp Hauenstein und Maj Lukas Hegi, Vorstand VSN

Dieser Artikel soll die Informationen zusammenführen, die derzeit zu den Inselaufschüttungen Chinas im südchinesischen Meer verfügbar sind. Die VSN-Redaktion möchte hiermit ein kompaktes Bild der Bestrebungen und Ereignisse rund um die Landgewinnung aufzeigen.

Seit etwa einem Jahr sind vermehrt Berichte zur Landgewinnung Chinas im südchinesischen Meer, vor allem im Raum der Spratley Inseln, zu lesen. Doch was verbirgt sich dahinter? An dieser Stelle muss vorausgeschickt werden, dass es sich bei den hier verarbeiteten Informationen, um solche aus westlichen, beziehungsweise vorwiegend amerikanischen Quellen handelt. Dies ist insofern wichtig, als dass die Interpretation der Absichten Chinas, immer vor dem Hintergrund der strategischen Neuausrichtung der Vereinigten Staaten auf den asiatischen Raum („Asian Pivot“) gesehen werden müssen.

Auf etwa 3.7 Millionen Quadratkilometern sind im südchinesischen Meer hunderte von kleinen Inseln, Riffen und Atollen verstreut. Die Spratley Inseln sind eine Gruppe davon, welche aus rund einhundert Atollen, Riffen und kleinen Inseln bestehen. Sie liegen geographisch etwa auf der Höhe einer Linie zwischen dem südlichen Vietnam und der südlichen Insel der Philippinen. China, Taiwan, Vietnam, Malaysia und die Philippinen haben einzelne davon besetzt. Die ersten drei Staaten beanspruchen die Gesamtheit der Inseln als ihr Territorium, während die letzten beiden sowie Brunei einen Teil davon für sich reklamieren. Sie alle begründen ihre Ansprüche mit einer Mischung aus völkerrechtlichen Ansprüchen und historischer Legitimation.[1]

Übersicht überdie verschiedenen Besitzansprüche auf die Spratly-Inseln Quelle: http://amti.csis.org/island-tracker/

Übersicht überdie verschiedenen Besitzansprüche auf die Spratly-Inseln Quelle: http://amti.csis.org/island-tracker/

Das südchinesische Meer ist das Zentrum Asiens. Mehr als die Hälfte des globalen Handelsvolumens und etwa ein Drittel aller Schiffsbewegungen weltweit führt durch dieses Meer.[2] Das entspricht einem Wert von rund 5, 3 Trillionen US$, wovon der bedeutendste Teil auf fossile Brennstoffe entfällt.[3]

Die nächste Frage lautet: Warum setzt China mehr als 500 Meilen entfernt vom Festland der Volksrepublik solche Massnahmen durch, die? Und warum tut es das gerade jetzt?

Ein erfolgreiches Aufschütten und Erstellen von Häfen, Landepisten und Funktionsgebäuden gestattet es, einen Teil der dortigen See für eigene Zwecke zu nutzen, was bis jetzt nahezu ausser Reichweite lag. Laut Dr. Mira Rapp-Hooper (Direktorin der Asia Maritime Transparency Initiative am Center for Strategic and International Studies in Washington) geht es China dabei weniger um die Förderung von Bodenschätzen auf dem umliegenden Meeresgrund oder um die Fischereigründe als vielmehr darum, seine Territorialansprüche zu bekräftigen.[4] Die Inseln selbst sind zumeist zu klein um grössere Militäreinheiten zu stationieren, doch sie sind ausreichend gross, um dauerhafte Luft- und Seepatrouillen von dort aus zu ermöglichen. Die USA berichten ausserdem von Sichtungen mobiler Artillerie der Chinesen in der Region und glauben, dass die Präsenz auf den Inseln China dabei hilft, mehr Kontrolle über die Fischerei in der Region auszuüben.

Das Besondere an den Meldungen rund um Chinas Aktivitäten ist laut Dr. Rapp-Hooper, dass China sich nun an einem Punkt befindet, an dem es bei vielen Projekten von der Aufschüttungsphase in die Bauphase wechselt. Allein das Bekräftigen dieser Statusmeldung in einer öffentlichen Stellungnahme im Juni 2015 markiert einen deutlichen Wechsel im diplomatischen Ton und unterstreicht Chinas Anspruchsgedanken bezogen auf die Spratley Inseln.[5]

Gleichzeitig versucht China generell im strategischen Sinne aufzuholen. Es hat sich viel zu spät in den vor Ort stattfindenden Landgewinnungsmarathon eingeschalten. Zitat von Sean O’Connor (Hauptanalytiker bei IHS Jane’s): “Strategically speaking, China is feeling left out“[6]. Bezüglich des Aufschüttens selbst, so haben Vietnam (Spratley Insel), Malaysia (Swallow Riff), die Philippinen (Thitu Insel) und Taiwan (Itu Aba) ihre Inseln in den Spratleys alle in den letzten Jahren vergrössert. Doch die Aktivitäten Chinas sind in Bezug auf die Dimensionen der Vorhaben am grössten und stellen die Ambitionen der anderen Staaten in den Schatten. Seit Januar 2014 hat China insgesamt 8,1 Qudratkilometer Landfläche hinzugefügt und hat damit die Gesamtfläche um das mehr als Vierhundertfache vergrössert. Und es tut dies mit beachtlicher Geschwindigkeit, wenn man bedenkt, dass es bis Beginn dieses Zeitraums gerade mal 500 Quadratmeter hinzugewonnen hat.[7] Dies brachte den Staatssekretär der USA, Ashton B. Carter, dazu, Chinas Aktionen in der Region zu kritisieren. [8]

Für China ist das Fiery Cross Riff das Projekt mit der grössten strategischen Bedeutung. Die nahezu fertiggestellte Landebahn von 3000 Metern wird lange genug sein, um China dort alle zur Zeit im Einsatz stehenden Flugzeugtypen starten und landen zu lassen – vom Kampfjet bis zum Schwerlasttransportflugzeug. Chinas Piste ist nicht die erste in der Region beziehungsweise andere Länder besitzen ähnliche Einrichtungen, doch mit wesentlich eingeschränkteren Landekapazitäten. Die Anlagen bzw. Inseln, die China nun durch Aufschüttungen vergrössert, fussen vor allem auf Strukturen die China bereits vor Jahren in Besitz nahm und dort kleinere Funktionsgebäude (z.B. Radaranlagen) errichtete. Auf dem Fiery Cross Reef zum Beispiel errichtete es 1988 unter dem Vorwand eines UNESCO Projekts zur Meeresbeobachtung einen Posten, der angeblich zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt wurde. Es besteht seit langem der Verdacht, dass dort nicht nur Fische und die Meeresfauna untersucht wurden, sondern auch ein SIGINT-Posten betrieben wurde. Inzwischen wurde um den Posten eine Insel mit einer Länge von 3000 Metern und einer Breite von 200 bis 300 Metern aufgeschüttet.

China legitimiert seine Erweiterungen nun damit, dass es nur darum gehe, bereits existierende Einrichtungen zu vergrössern, ähnlich wie dies andere Länder in anderen Regionen handhaben. Zwei weitere Grossprojekte am Mischief und am Subi Riff werden derzeit von China mit grossen Anstrengungen vorangetrieben. Es ist unklar, welche Strukturen dort aufgebaut werden sollen, doch lassen die Dimensionen die Vermutung zu, dass es sich um Flugfelder handelt.[9]

Taktisch gesehen bedeutet ein Flugfeld wie das auf dem Fiery Cross Riff, dass China seine situative Wahrnehmung und Bereitschaft sehr stark verbessern kann. Es erlaubt die Stationierung von Marine-Aufklärungsflugzeugen, kann als Basis für Trainingszwecke dienen und erlaubt auch Kampfjets auf Rotationsbasis.[10] 650 Meilen vor Chinas südlichster Position, der Hainan Insel, wird China dadurch in die Lage versetzt Patrouillen oder auch limitierte offensiv ausgeprägte Operationen durchzuführen, welche gegen diejenigen gerichtet sein können, die Chinas Ansprüche im südchinesischen Meer streitig machen oder gar in Konfrontation mit US-Einheiten gebracht werden könnten.[11]

Das Fiery Cross Riff hat eine Landebahn welche lang genug ist, damit ein chinesischer H-6G Bomber (Lizenzversion des russischen Tu-16 Bombers, bekannt unter dem NATO-Code Badger) landen könnte. Von dort aus hätte dieser einen Operationsradius von 3’500 Meilen.[12] Die chinesischen Kampfjets der vierten Generation vom Typ Shenyang J-11 (in Lizenz gebaute und später weiterentwickelte Version des russischen Su-27 Jagdflugzeugs) hätten einen Einsatzradius von 870 Meilen.[13]

Land reclamation at Vietnam’twere Sand Cay. Image by DigitalGlobe, via CSIS Asia Maritime Transparency Initiative

Chinas President Xi Jinping hat unterstrichen, dass China seine Ansprüche im südchinesischen Meer unmissverständlich zustehen, gleichzeitig aber nicht bestrebt ist, gegen irgendjemanden Krieg zu führen.[14] Trotzdem ist das Errichten von Basen mit grossen Kapazitäten für Luftstreitkräfte ein klares Zeichen „wie jemanden mit dem Ellenbogen beiseite zu schieben“[15] (Umschreibung von Timothy Heath von RAND), um den Anspruch zu untermauern und bei Streitigkeiten entsprechend gewappnet zu sein – egal gegen wen. Hauptgegner aus chinesischer Sicht dürften aber die USA sein. Darauf lassen zwei Tatsachen schliessen. Zum ersten die militärischen Kräfteverhältnisse. Chinas Streitkräfte übertreffen in Grösse und Ausrüstung alle anderen Mitkonkurrenten in diesem Raum. Zum zweiten hat China bei der Rüstungstechnologie und der Konzeption einen grossen Schritt gemacht. Chinas Doktrindokumente beschreiben eine dem amerikanischen anti-access/area denial (A2/AD)-Konzept ähnliche Operationsweise.[16] Dabei geht es darum einem Gegner den Zugang zu einem Gebiet zu verwehren und seine Bewegungsfreiheit einzuschränken. Dazu sind leistungsfähige Aufklärungsmittel und präzise, weitreichende Waffensysteme notwendig. Über beides verfügt die Volksbefreiungsarmee. Es bleibt zu hoffen, dass eine zukünftige Eskalation ausbleibt, denn eine solche wäre auch für China nur schwer zu kontrollieren.[17]

Die Konflikte um territoriale Ansprüche und Grenzen im südchinesischen Meer sind nicht neu. Sie haben aber etwa seit dem Jahr 2000 an Dynamik gewonnen, die sich seit 2009 weiter beschleunigt hat. Dafür sind drei Themenkomplexe ausschlaggebend: erstens, die historisch-politische Legitimation territorialer Ansprüche; zweitens die wirtschaftliche Nutzung des Meeres im Sinne der Ausbeutung von Bodenschätzen, wie auch der Kontrolle der Seefahrt als Garantie für die Versorgung und wirtschaftliche Prosperität des Landes; drittens, die geostrategische Konkurrenz zu den USA um Einfluss in Asien und die für China daraus abgeleitete Notwendigkeit, seinem Konkurrenten notfalls auch militärisch entgegentreten zu können. Das selbstsichere, aggressive Auftreten Chinas belegt die Veränderung der geopolitischen Verhältnisse. Für die Vereinigten Staaten steht einiges auf dem Spiel. Seine Bündnispolitik und die Sicherheitsgarantien für die Alliierten in Südostasien sind vom ungehinderten Zugang zum südchinesischen Meer abhängig.

[1] Für einen Abriss der historischen Begründungen siehe zum Beispiel Raine, Sarah und Christian La Mière (2013), Regional Disorder-The South China Sea Disputes, Abingdon: Routledge (Adelphi Paper 436-437) S. 35-50.

[2] Robert Kaplan, The Vietnam Solution, The Atlantic, Juni 2012, http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2012/06/the-vietnam-solution/308969/ (Stand 17.08.2015).

[3] Raine, La Mière, Regional Disorder, S. 12.

[4] Derek Watkins, What China Has Been Building in the South China Sea, New York Times, 31. Juli 2015, http://www.nytimes.com/interactive/2015/07/30/world/asia/what-china-has-been-building-in-the-south-china-sea.html (Stand 09.08.2015).

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] China’twere land reclamation in disputed waters stokes fears of military ambitions, The Guardian, 8. Mai 2015, http://www.theguardian.com/world/2015/may/08/china-land-reclamation-south-china-sea-stokes-fears-military-ambitions (Stand: 17.08.2015).

[8] Watkins, What China Has Been Building in the South China Sea.

[9] Ebd.

[10] Center for Strategic & International Studies, Airpower Projection, http://amti.csis.org/airstrips-scs/ (Stand 09.08.2015).

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Video: China’twere Airpower from Fiery Cross Reef, Center for Strategic & International Studies, 29.07.2015: https://www.youtube.com/watch?t=512&v=Vsi_nIP2DHI (Stand: 09.08.2015).

[15] Ebd.

[16] Aaron L. Friedberg (2014), Beyond Air-Sea Battle-The Debate over US Military Strategy in Asia; Abingdon: Routledge (Adelphi Paper 444), S. 20-38.

[17] Video: China’twere Airpower from Fiery Cross Reef, wie Endnote 14.